Türkei 2004: Bericht ⇒ Hinter'm Horizont geht's weiter ...

Hinter der kleinen Fähre wird die Insel Chios langsam immer kleiner. Vor dem Bug taucht schon bald die türkische Küste als dunkler Streifen auf. Im Morgendunst und den blendenden Strahlen der noch niedrig stehenden Sonne ist die Stadt Çeşme jedoch nur schwer auszumachen. Eine gute Stunde nach dem Ablegen schaukelt der Kahn in den Zollabfertigungsbereich des Hafens. Die Einreiseformalitäten dauern etwa 20 Minuten. Ich bekomme einen Stempel in den Pass und ein Triptik für das Fahrzeug ausgestellt. Beim Ausfüllen muss ich dem jungen Zöllner helfen und ihm zeigen, wo er Fahrgestellnummer und Datum der Erstzulassung usw. findet. Nach dem diese Hürde genommen ist, muss ich noch mal eine halbe Stunde warten, bis der Chef eigenhändig das Tor aufschließt. Warum er solange wartet, ist mir schleierhaft. Er sitzt neben mir auf der Mauer und interessiert sich sehr für meine geplante Route. Außerdem gibt er mit Tipps, was ich mir unbedingt noch ansehen sollte. Als er genug erzählt hat sagt er, „ok my friend, have a nice trip“ und entlässt mich in den noch mäßigen Straßenverkehr von Çeşme.

In der Innenstadt ziehe ich mir türkische Lira am Bankautomaten und trinke danach den ersten türkischen Kaffee in einem Café schräg gegenüber der Bank. Auf dem Platz vor der Bank steht nämlich eine Transalp mit deutscher Zulassung im Reisetrimm und den Fahrer möchte ich gerne kennen lernen. Einige Minuten später stellt er sich mir als Klaus vor. Er hat eine Reise in den Iran geplant und ist gerade mit der Direktfähre von Italien nach Çeşme gekommen. Wir tauschen noch ein paar Erfahrungen aus, bevor sich unsere Wege trennen. Bevor ich weiterfahre, will ich in einem Internetcafé noch schnell Kontakt mit der Heimat aufnehmen, aber die Verbindung ist so langsam, dass sich mein Mailprogramm nicht aufbaut. Dann muss ich halt später Bericht erstatten und den neuen Standort durchgeben, jetzt erst mal raus aus der Stadt.

Die Straße zieht sich über sanfte Hügel an der Küste entlang. Fast ständig ist das Meer in Sicht- und Riechweite. Ich cruise sanft dahin und irgendwie habe ich den Reflex die Beine nach vorne, auf den nicht vorhandenen vorverlegten Fußrasten abzulegen. Da ich jedoch eine Reiseenduro habe, nehme ich dankbar und flott einige Kurven an, die mich über eine Hügelkette führen und mir den komischen Reflex wieder nehmen ;-). Nach einiger Zeit kündigt eine gelbe Dunstglocke an, dass Izmir nicht mehr weit ist. Ich tauche in den starken Verkehr der Stadt ein und schiebe mich durch die Staus. Die Straßen sind glatt und rutschig, Gashand und Bremse müssen dementsprechend sanft dosiert werden. Ich kann gar nicht mehr zählen, an wie vielen roten Ampeln ich schon gestanden habe und mich jedes Mal aufs Neue in dem breiten ungeordneten Strom der Busse und Autos behaupten muss. Irgendwann erreiche ich völlig durchgeschwitzt die andere Seite der Metropole. Der Verkehr und die dicke Luft liegen hinter mir, die grünen Felder und Baumgruppen lassen mich die hektische Stadt schnell vergessen. Bei Çandarli verlasse ich die Hauptstraße und mache mich auf die Suche nach einem Zimmer. Mitten in einem Dorf finde ich erst mal ein Internetcafé, diesmal sogar mit guter Verbindungsqualität. Hätte ich hier echt nicht erwartet. Einige Kilometer weiter erreiche ich Dikili. In diesem Ort machen nur Einheimische Urlaub, Ausländer findet man hier kaum. Die Chancen für ein günstiges Zimmer stehen also gut. Etwas Außerhalb des Ortskerns werde ich in der „Pansiyon Dikili“ fündig. Ein nettes sauberes Zimmer mit Mückengitter vor Balkontür und Fenster - die Schnaken auf Samos sind mir leider noch zu gut in Erinnerung - mit Bad und Balkon für 8,36 €? Da sage ich nicht nein.

Fast im gesamten Ortskern von Dikili sind Marktstände aufgebaut. Hosen, Hemden, Büstenhalter, allerlei Krimskrams und Küchenutensilien werden angeboten. Auf der anderen Seite gibt es Gemüse und Obst, Fleisch und Fisch, Gewürze und Kräuter. Die Gerüche schwanken vom würzigen Aroma bis zum üblen Gestank. Es macht aber trotzdem viel Spaß hier zu schlendern. Bei der Gelegenheit kaufe ich gleich fürs Abendessen ein. Milde Paprika, einige Tomaten, ein paar Bananen und ein frisches Brot. Auf der Straße sprechen mich zwei Frauen an, anscheinend Mutter und Tochter. Zuerst fragen sie in gebrochenem Englisch nach der Uhrzeit, dann wollen sie wissen woher ich komme und was ich hier mache. Schließlich wünschen sie mir einen schönen Aufenthalt in der Türkei und heißen mich abermals willkommen. Echt nett hier, hoffentlich ist das überall so. In einem Teehaus gönne ich mir noch einen heißen Tee. Er schmeckt hier nicht so bitter wie der in Nordafrika, ich brauche nicht mal Zucker dafür. Danach erstehe ich in einem der zahlreichen Geschäfte für Handys noch ein neues Ladekabel für mein Telefon. Versehentlich habe ich nämlich das falsche Kabel eingepackt. Später muss ich feststellen, dass es mir nicht viel nützt, der Steckanschluss am Motorrad hat keine Spannung :-(

Da ich noch etwas Zeit bis zum Treffen mit Ralf habe, möchte ich noch eine Nacht bleiben und die Gegend erkunden. Nicht weit von hier ist der Ort Bergama. Der alte Name, Pergamon, ist da sicher geläufiger. Um zum Ausgrabungsgelände zu gelangen, muss man zwischen einigen Kasernen durchfahren. Rechts Panzer, links bewaffnete Soldaten, ist schon ein komisches Gefühl. Als ich die Maschine auf dem Parkplatz abstellen will, winken mich ein Polizist und einige ältere Männer direkt zum Eingang des Komplexes. „Where do you come from?“, fragt der Sheriff in gutem Englisch. „Germany“, antworte ich. „Ah, Almaniya, Almaniya good, welcome, welcome“, erwidern die Herren fast im Chor und drücken mich auf die schattige Bank. Ich solle das Motosiklet vor dem Kassenhäuschen abstellen, sie würden schon darauf aufpassen. Und überhaupt solle ich erst mal einen Tee trinken und erzählen wo ich bisher war und wo ich noch hin wolle. Nachdem die gegenseitigen Nettigkeiten ausgetauscht sind, „darf“ ich mir eine Eintrittskarte kaufen und die Ausgrabungsstätte betreten. In einer Info-Broschüre lese ich, dass die antike Siedlung Pergamon auf einem 300 m hohen Gebirgsausläufer liegt und vom 7. Jh. v. Chr. ab bis in die späte byzantinische Zeit (14. Jh. n. Chr.) in wechselnder Ausdehnung von Stadtmauern umgeben war. Nur in der römischen Kaiserzeit dehnte sie sich auch ohne Stadtmauern in der Ebene, dort wo heute die Stadt Bergama liegt, aus. Während die Grabung 1878 mit dem Ziel begonnen wurde, die damals neu bekannt gewordenen Reliefs des bald berühmtem „Pergamon-Altars“ zu bergen, steht schon seit über 100 Jahren die Erforschung des gesamten antiken „Stadtorganismus“ im Vordergrund. Zu den Zielen der heutigen Grabungen gehören auch der Schutz und die Wiederherstellung wichtiger Bauten. Die Erforschung der Umgebung und ihrer Ruinen sowie der antiken Wasserleitungen und der Stadtmauern wurde schon in der Frühphase begonnen und dauert bis heute an.

Ich bin ganz allein auf dem Gelände und ich fühle mich irgendwie komisch dabei. In den griechischen Ausgrabungen ist man einer unter ganz vielen, die sich durch die Ruinen drängen. Hier komme ich mir fast vor, als wenn ich gar nicht da sein dürfte. Dennoch schlendere ich dann zielstrebig durch die Kolonnadenstraße auf das alte Theater zu. Bei diesen Bauten fasziniert mich immer die Akustik. Selbst wenn man auf der Bühne flüstert, so hört man das noch in der obersten Reihe. Da ich alleine bin und nicht gleichzeitig auf der Bühne und in den Zuschauerrängen sein kann, fällt dieses Phänomen diesmal leider aus. Ich begutachte noch die Bewässerungsanlagen und die Befestigungsmauern und beobachte einige Eidechsen und sogar eine Schlange. Dann wird es mir langsam zu heiß in den Motorradklamotten. Ich lasse mir auf der schattigen Bank vor der Kasse noch einen frisch gepressten Orangensaft servieren und verabschiede mich von den Honoratioren. Mich zieht es in die schattigen Wälder auf den Höhenzügen der Geyikli Dağı.

Die Straße in den Bergen ist ausnahmsweise mal griffig, aber von nicht allzu guter Qualität. Also eigentlich genau richtig für mich. Ab und zu zweigen unbefestigte Wege ab und irgendwann entscheide ich mich willkürlich für einen. Vielleicht nicht ganz willkürlich, ich glaube der Bach, den ich schon nach wenigen Metern durchqueren muss, hat mich gelockt. Noch schnell die Tiefe und die Fließgeschwindigkeit gecheckt – harmlos, passt also.  Ei wie das Wasser spritzt, da freut sich das Endurofahrerherz. Der Boden besteht nun aus trockenem sandigem Lehm und führt gemächlich nach oben. Den Spuren nach fahren hier ab und zu Autos entlang. Lt. GPS könnte der Weg zu der ein oder anderen eingezeichneten Ortschaft führen und irgendwann wieder auf eine Straße. Nach einigen Kilometern blockieren einige freilaufende Kühe die Piste. Hm, sie schauen genauso fragend zu mir rüber, wie ich zu ihnen. Wer hat jetzt mehr Angst? Ich fahre langsam ein Stück nach vorne, da preschen die Viecher auch schon in den Wald hinein. Ha, gewonnen ;-) Als der Weg sich dann doch von den Ortschaften und von der eingezeichneten Straße abwendet, wähle ich eine schmale Sandpiste, deren Richtung Erfolg versprechender aussieht. Als der feinkörnige Grund immer tiefer und verspurter wird, macht sich dann doch meine Wüstenerfahrung bezahlt. Außerdem hilft auch das Motto vom Schwedenkumpel Per: „Der Gas ist dein Freund!“ Durch die Konzentration auf das Fahren merke ich erst spät, dass ich einen weiten Bogen gefahren bin und nahe meines Einstiegs bei der Wasserdurchfahrt wieder die Straße erreiche. So war das aber nicht geplant. Aber egal, schon der nächste Abzweig ins Unbekannte ist wieder mein. Ich werde schon dort ankommen, wo ich hin will …

Diesmal habe ich den richtigen Weg genommen. Die Strecke ist zwar ziemlich holprig, doch sie bringt mich nach einigen Kilometern in ein Dorf. Die „Straße“ führt direkt auf ein Gemüsegeschäft zu. Prima, dann kann ich gleich einkaufen. Für die Leute hier bin ich wohl die große Attraktion. Schon bald bin ich umzingelt und jeder will irgendwas von mir wissen, ich verstehe nur nicht was. Ausnahmsweise versteht hier niemand deutsch oder englisch. Ich rufe ihnen zu, dass ich aus Deutschland komme, in Ermangelung türkischer Sprachkenntnisse versuche ich es auf arabisch: „Ana min Almania!“ Da lachen alle und freuen sich. Oder lachen sie mich aus, weil ich Verrückter mit dem Mopped die weite Strecke gefahren bin? Ich werde es wohl nie erfahren. Als ich erkenne, wer hier das Gemüse verkauft, dränge ich mich zu ihm durch und zeige auf das, was ich haben möchte. Ich halte dann drei Finger in die Höhe, um die gewünschte Anzahl mitzuteilen. „üÇ Kilo?“ Fragt der Verkäufer zurück und meint damit drei Kilogramm. „Nein“, antworte ich, „drei Stück“ und zähle die Tomaten unter seinem Lachen ab.  Die Paprikaschoten, Tomaten und ein längliches Brot kosten nicht einmal eine Million TL, also weniger als 50 Cent. Ich verstaue alles in meinen Rucksack und mache mich zur Abfahrt bereit. Beim Anfahren rufe ich den Männern und Kindern ein herzliches „allaha ısmarladik“ zu, eine der wenigen Phrasen, die ich noch aus früheren Reisen in Erinnerung behalten habe. Die Leute winken zum Abschied und rufen „Güle güle!“ Dann bin ich auch fast wieder aus dem Dorf draußen.

Nach meinem Einkauf steht einem zünftigen Picknick nichts mehr im Wege. Ich durchquere noch ein paar einsame Ortschaften und erreiche bald wieder eine Teerstraße. Sie führt einen Bergrücken hinauf, von dem aus man einen tollen Blick zum Meer hinüber hat. Auf einer Wiese, im Schatten eines Baumes, lasse ich mich nieder und genieße die Aussicht. Grillen zirpen, Vögel singen, hoch oben am Himmel zieht ein Adler seine Kreise. Genüsslich verspeise ich Brot und Rohkost und erfreue mich an der Natur. Plötzlich ertönt ein lautes Knattern. Ein alter Mann fährt mit seinem Zweitaktgespann ins Tal hinunter. Im Lastenboot sitzt seine Frau und hält zwei Schafe fest. Gemächlich hebt der Alte die Hand zum Gruß und knattert weiter. Nach einer Weile packe ich meinen Rucksack und ziehe gemütlich weiter. Auf einer Weide sehe ich, wie einige Bauern gerade Schafe scheren. Ich geselle mich zu ihnen und frage, ob ich zuschauen darf. Sie haben nichts dagegen und erfragen gleich das übliche woher und wohin und ob ich denn nicht eine Frau und Kinder hätte. Mit Händen und Füßen unterhalten wir uns zwar umständlich, aber das ist ganz lustig. Ich darf sogar einige Fotos von ihnen machen. Nicht ohne Stolz zeigen sie, wie geschickt sie mit den großen altertümlichen Scheren die Wolle vom Schaf schneiden. Eine Heidenarbeit, mir würden schon nach wenigen Schnitten die Hände schmerzen. Da sie gerne Abzüge von den Bildern hätten, schreiben sie mir noch ihre Adresse auf. Bevor ich weiter ziehe, teile ich noch einige Müsliriegel an die Kinder aus. Die etwas verschüchterten Buben betrachten die Riegel skeptisch und packen sie in die Taschen. Ob die ihnen wohl schmecken werden?

Nach der zweiten Nacht in Dikili zieht es mich weiter Richtung Norden. Die Straße schmiegt sich zuerst an die Küstenlinie und führt mich dann in bewaldete Höhen hinauf. Als ich gerade ein Auto überholt habe, stottert plötzlich der Motor. Was soll denn das jetzt sein, denke ich und halte auf dem Seitenstreifen an. Ich jage ein paar Mal die Drehzahl hoch. „Läuft doch, was willst du denn“, sage ich zu mir selbst. Dann setze ich den Weg ohne Probleme fort. In Gedanken beschäftige ich mich noch kurz mit dem Phänomen, aber da der Motor wieder prima läuft, habe ich den Vorfall schon bald wieder vergessen. Gegen Mittag biege ich Richtung Troja ab. Ich will mir endlich mal in Natura mal anschauen, was der alte Schliemann da entdeckt hat. Ein unscheinbarer Hügel zeichnet sich vor mir ab. Selbst aus nur hundert Metern Entfernung kann man nicht ahnen, welche „Schätze“ sich unter dieser Erde verstecken. Auf dem Parkplatz vor dem Eingang stehen schon einige Reisebusse. Ich werde also nicht so allein sein wie in Pergamon. Das Motorrad stelle ich direkt vor dem Eingang ab, so dass der Kartenabreißer die Maschine im Blickfeld hat. Das erste was einem ins Auge sticht ist natürlich ein riesiges hölzernes Pferd, in dem sich Legende nach einige mutige Krieger versteckten um Troja durch List zu erobern. Von Homer wird dazu überliefert, dass im alten Griechenland die Leidenschaft eines der legendärsten Liebespaare aller Zeiten jenen Krieg provoziert, der eine ganze Zivilisation in den Untergang stürzen soll. Paris, der Prinz von Troja, raubt Königin Helena die Frau von König Menelaos von Sparta. Das ist eine Beleidigung, die der König so nicht hinnehmen kann. Die Provokation von Menelaos trifft genauso stark seinen Bruder Agamemnon, den mächtigen König von Mykene. Er ruft die starken Stämme Griechenlands zusammen, um Helena von den Trojanern zurückzuholen und so die Ehre seines Bruders wiederherzustellen. Doch in Wahrheit ist seine immense Habgier das Hauptmotiv, die Familienehre schiebt Agamemnon nur vor. Er muss Troja unterwerfen, wenn er die Vorherrschaft seines bereits riesigen Reiches sichern will. In der von dicken Mauern umgebenen Stadt regiert König Priamos. Prinz Hektor ist mit der, bisher erfolgreichen, Verteidigung des Stadtstaates beauftragt. Der stark befestigte Ort hat bisher allen feindlichen Angriffen widerstanden. Ob Troja siegt oder fällt, hängt nur von Achilles ab. Er gilt als der größte Krieger seiner Zeit. Achilles ist arrogant, rebellisch und schier unüberwindlich. Er nimmt für niemanden Partei, ihn interessiert allein sein eigener Ruhm. Weil er als Held unbedingt unsterblich werden will, entschließt er sich, für Agamemnon gegen Troja zu kämpfen. Doch letztlich ist es die Liebe, die sein Schicksal besiegeln wird.

Doch fand der Trojanische Krieg wirklich statt? Auch wenn die Ilias in den beschreibenden Details von Landschaft und Architektur viele übereinstimmungen mit der Realität des Siedlungshügels Hissarlik aufweist, so bedeutet das natürlich keineswegs einen Nachweis für die historische Realität des von Homer geschilderten Kriegsgeschehens. Es gibt zwar nahe liegende Vermutungen und Hinweise, dass es um den strategisch wichtigen Siedlungsplatz immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hat. Einen archäologischen Beleg für die Historizität der Geschehnisse im 12. Jh. v. Chr., die Homer etwa 400 Jahre danach schildert, gibt es jedoch nicht.

Nach dem ich die alten Mauern besichtigt und mich geschichtlich weitergebildet habe, will ich in Çanakkale mit der Fähre auf die europäische Seite der Türkei übersetzen und dort Richtung bulgarische Grenze hochfahren, um Ralf zu treffen. Çanakkale selbst hat wenig Charme. 1912 wurden große Teile des Ortes durch ein Erdbeben zerstört, heute säumen Betonbunker die Straßen. Ich zuckele durch den Verkehr zum Hafen hinunter und besorge mir für 3 Mio. TL (ca. 1,50 €) ein Ticket. Die Fähre ist proppenvoll und will gerade ablegen. Ich werde gerade noch auf dem Fußgängerzugang des Schiffs gelotst, dann setzt sich der Dampfer auch schon in Bewegung. Na toll, wie soll ich denn nun wieder runter kommen? Der Kahn ist ein RoRo und wird drüben mit der Vorderseite anlegen. Hinten kann ich nicht raus, da ist dann ja Wasser und vorne ist der Fußgängerzugang zu eng für das Mopped. Aber Moment, wenn ich die Koffer abmontiere, könnte es gerade gehen. Gesagt, getan, ohne Koffer passt die Alp gerade so zwischen dem Gitter zum Fahrzeugdeck und der Bordwand hindurch. Glück gehabt.

Die Fahrt über den 1,2 Kilometer breiten Dardanellenschlauch, eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt, dauert gut eine halbe Stunde. Es stinkt nach Diesel und nach Salzwasser und es ist heiß. Ich suche mir ein schattiges Plätzchen und hoffe auf eine kühlende Brise, die bleibt jedoch aus und ich muss weiter schwitzen. Als das Schiff angelegt hat, komme ich erst ganz zum Schluss herunter. Ich bin ja auch als letztes rauf. Umständlich werden die Fahrzeuge im Zickzack durch den Ort geführt. Die vor mir fahrenden LKW und Busse wirbeln dabei eine Menge Staub auf, der in den Augen beißt. Hinter dem Dorf beginnt eine gut ausgebaute Landstraße, auf der ich die vor mir schnaufenden Laster gut überholen kann. Dann führt die Straße auf einem Kamm entlang, von wo aus man an manchen Stellen gleichzeitig rechts die Dardanellen und links das thrakische Meer sehen kann. Ein toller Ausblick, wenn nur nicht der Wind so stark an der Maschine zerren würde. Ab und zu schaue ich auf die Karte und rechne mit Streckenlängen und Fahrzeiten hin und her. Es ist zwar noch etwas früh um einen Schlafplatz zu suchen, aber von der Karte her scheint der Küstenort Şarkoy ganz gut geeignet zu sein. Außerdem führt eine kleinere Straße dort hinunter und ich kann endlich die zugige Hauptstraße verlassen. Etwas später liegt Şarkoy fast wie ausgestorben vor mir. Ungefähr so, als wenn ein wichtiges Fußballspiel im Fernsehen gezeigt wird. Ich muss lange suchen, bis ich eine mögliche Unterkunft gefunden habe. Vor der „Pansyion“ ist ein Kiosk und der Verkäufer sagt, dass die Hotels momentan noch geschlossen wären. Die Saison beginne erst in zwei Wochen. Als er mein enttäuschtes Gesicht sieht, lässt er seinen Kiosk offen stehen und geht um die Ecke in ein Geschäft. Kurze Zeit später kommt er mit einem untersetzen älteren Herrn zurück, der angeblich noch ein Zimmer frei hätte. Der Alte keucht vor mir vier Stockwerke hinauf und zeigt mir ein winziges Zimmerchen unter dem Dach mit kleiner Kochecke. 30 Mio. will er dafür. Hm, da habe ich schon billiger und viel schöner geschlafen, ich lehne dankend ab und gehe zum Kiosk zurück. Der Verkäufer ist sehr nett und wir unterhalten uns mit Händen und Füßen. Bevor ich losfahre, zeigt mir seinen Dienstausweis. Er ist Polizist und jobbt nebenher in dem Kiosk. Er ermahnt mich vorsichtig zu fahren und als ich zum Abschied militärisch salutiere, nimmt er mich lachend in den Arm und drückt mich.

Einige Kilometer weiter im Norden lege ich mich abseits der Straße ins Gras. Im Rucksack warten noch Tomaten, Paprika, Käse und Brot auf ihr Schicksal. Während dem Essen studiere ich die Karte. Mit Ralf werde ich mich frühestens morgen Abend treffen, ich habe also noch genügend Zeitreserven. Von einer früheren Reise weiß ich, dass es vor Istanbul an der Küste genügend Unterkünfte gibt. Also halte ich erst mal auf Tekirdağ zu und will schauen, was ich so finde. Kurz nach dem ich wieder auf der Hauptstraße bin, setzt der Motor wieder aus. Diesmal aber etwas länger, als heute Morgen. Ich mache den Motor aus, starte ihn erneut, wackele an den Benzinleitungen herum und plötzlich läuft er wieder rund. Was ist das nur für ein Mist? Bis Tekirdağ werde ich hoffentlich noch kommen. Je mehr ich mich Istanbul nähere, desto dichter und auch etwas chaotischer wird der Verkehr. Jeder will an der Ampel vorne stehen, und schon kurz vor Grünlicht geht das Gehupe los. Dann fahren aber alle so langsam an, dass man mit dem Mopped fast umfällt. Mit den breiten Koffern ist es auch nicht leicht sich durch die engen Schlangen zu mogeln. Nach immer erneuten Kämpfen um die Pole Position habe ich das andere Ende von Tekirdağ erreicht. Ein Schild weißt auf eine Pansyion mit dem Namen „No Problem“ hin. Außerdem soll dort englisch und deutsch gesprochen werden. Ich folge dem Pfeil und kurve durch einen Vorort Richtung Küste hinunter. An einer schmuddeligen Ecke liegt die Unterkunft, der Wirt sitzt auf der kleinen Terrasse und schnippelt gerade sein Abendessen zurecht. Er spricht ganz gut deutsch und sagt, ich solle mich erst mal setzen. Während er in Ruhe seine Mahlzeit zubereitet, fragt er mich die üblichen Dinge, die hier immer gefragt werden. Dann steht er schwerfällig auf und schlurft zum übernächsten Hauseingang, um mir das Zimmer zu zeigen. Na ja, groß ist es nicht, und nur leidlich sauber. Auch ist die Tür zum Badezimmer von unten her ziemlich verfault. Aber das soll mich für eine Nacht nicht stören. Wir handeln um den Preis, schließlich ist er mit 15 Mio. (ca. 8,50 €) zufrieden.

Endlich mal ausschlafen. Bis Edirne ist es nicht mehr weit und ich habe noch den ganzen Tag Zeit. Auf der Landkarte habe ich mir die kleinsten Straßen herausgesucht, auf denen ich noch etwas durch die Gegend kurven will. Kurz vor einer Tankstelle setzt abermals der Motor aus. Irgendwie scheint eine der Zündboxen eine Macke zu haben. Nach dem Tanken läuft der Motor wieder richtig. Liegt es vielleicht doch am Sprit? Zwischen riesigen Feldern tuckere ich auf kleinen buckeligen Wegen vor mich hin. In jedem Dorf fallen ein oder mehrere Hunde über mich her. Laut kläffend verfolgen sie mich. Zum Glück bin ich in Rumänien abgehärtet worden, denn eigentlich habe ich große Angst vor Hunden. Mit der Zeit mache ich mir sogar einen Spaß daraus, zuerst langsam zu fahren, damit die Kläffer näher kommen und dann langsam Gas zu geben, bis ihnen die Luft ausgeht oder ihr Revier zu Ende ist. Irgendwann führt rechts eine Piste auf einen Hügel hinauf. Da oben lässt es sich bestimmt prima rasten. Blinker raus und schon holpere ich den Weg hinauf. Die Kuppe ist ziemlich steil, an der Kante lüpft mir es mir etwas das Vorderrad - toll, ich hab 'nen Wheely gemacht ;-) Hier oben stehen einige bewachsene Erdhaufen, hinter denen ich sichtgeschützt ruhen kann. Meine Bastmatte, die ich mir am Strand von Naxos besorgt habe, verrichtet auch hier gute Dienste. Meine Jacke bildet das Kopfkissen, was aber alles andere als gemütlich ist, schließlich sind die Protektoren hart. In der Nähe muss ein Tümpel sein, laut und ohne Unterlass quaken da eine Menge Frösche. Aber das stört überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich werde sogar richtig müde und schlafe irgendwann ein. "Wau, wau, wuffwuffwuff!" Träume ich oder bin ich wach? "Wuffwuffwuffwuff, wauwau!" Mit einem Ruck bin ich auf den Beinen. Etwa zehn Meter von mir entfernt stehen drei riesige Köter und gauzen mich an. Jetzt habe ich doch die Hosen voll. Langsam, ohne die Tiere aus den Augen zu lassen, packe ich meine wenigen Sachen zusammen. Die Viecher haben einen Halbkreis um mich gebildet. "Wauwauwauwau!" Ich lege mir ein paar dicke Steine zurecht. Helm auf, Handschuhe an. Mist, meine Maschine steht direkt vor einem steilen Abbruch. Rückwärts, in Richtung scharfer Zähne, will ich die Maschine nicht schieben. "Ach was, das packst du schon, schlimmer als Dünen fahren ist das auch nicht", mache ich mir selbst Mut. Die Feige Seite in mir kontert: "Aber es ist härter, wenn du hinfällst!" "Wuffwuffwuff!" So ein Biss tut sicher auch weh! Startknopf drücken, Gang reinhauen und aaahhh ist das steil...

Den hungrigen Wölfen entronnen ;-) folge ich weiter dem Asphaltband. Lange Kurven liegen vor mir, entsprechend rasch lasse ich die Kiste laufen. Soweit das Auge reicht immer nur Felder. In einem der Dörfer finde ich einen Krämerladen. Der übliche Proviant wandert in meinen Rucksack, Käse, Tomaten, Paprika und Brot. Wieder mal können die Leute nicht fassen, dass ich mit dem Motorrad von Deutschland bis hierher gekommen bin. Ist doch gar nicht so weit, denke ich. Der Besitzer holt extra seine Frau aus der oben liegenden Wohnung, damit sie auch mal einen verrückten Touristen sehen kann. Kopfschüttelnd schauen die beiden mir nach. Noch bevor ich die Hauptstraße nach Edirne erreiche, will ich Brotzeit machen. Ich vertraue mich wieder einem Feldweg an, in der Hoffnung nicht wie Rotkäppchens Großmutter zu enden. Kaum bin ich auf dem harten Lehmboden, spinnt der Motor wieder. Irgendwie läuft die Kiste nur auf einem Zylinder, der Drehzahlmesser geht aber. Ich halte neben einigen hohen Büschen an und packe das Werkzeug aus. Alukoffer wegmachen, Seitendeckel entfernen und die Sitzbank runterschrauben. Jetzt liegen die beiden Zündboxen vor mir. Ich tausche sie gegeneinander aus und starte den Motor. Er läuft immer noch auf einem Zylinder, aber nun geht der Drehzahlmesser nicht mehr. Also ist doch eine der beiden CDIs kaputt. Dabei habe ich das Modell '94, bei dem die Boxen ab Werk liegend eingebaut sind und die Sitzbank nicht auf die Stecker drückt. Dieser Fehler hat bei den vorangegangenen Modellen reihenweise die CDIs ausfallen lassen. Dann habe ich also die Ausnahme, dass so ein Teil auch ohne mechanische Belastung mal kaputt geht. SCH....!!! Ich baue alles zusammen und mache mich erst mal über die Essensvorräte her. Was kann ich jetzt tun? Per Schutzbrief eine Ersatzzündbox einfliegen lassen und mich ein paar Tage am Zoll rumplagen bis ich sie endlich habe? Nach Griechenland zurückfahren und dort Ersatz besorgen? Ganz nachhause fahren und hoffen, dass die Box nicht zu oft aussetzt? Jetzt fahre ich erst mal zum Treffpunkt weiter, vielleicht hat Ralf einen guten Rat für mich.

Einige Kilometer vor Edirne nehme ich mir in einem Motel ein Zimmer. Duschen, aufs Bett legen und abwarten. Ralf meldet sich nicht. Ich gehe ins zugehörige Restaurant und bestelle mir ein Bier. Obwohl es kalt ist, setze ich mich draußen hin, irgendwie fällt mir da das Warten leichter. Gegen 21:30 Uhr kommt endlich eine SMS von Ralf. Er steht gerade an der bulgarisch/türkischen Grenze. Ich beschreibe ihm kurz den Weg, und dass das Motel von ihm aus gesehen ca. 7 Kilometer hinter Edirne ist. Nach einer halben Stunde kommt eine weitere SMS. Ralf steht 8 Kilometer hinter Edirne, hat aber das Motel nicht gefunden. Er gibt mir noch seine Koordinaten und ich tippe sie in mein GPS ein. Er ist leider der falschen Straße gefolgt. Ich gebe ihm nun die richtigen Koordinaten durch und bald darauf hat er mich gefunden. Total durchgefroren und etwas nass, in Bulgarien hatte es geregnet, steht er vor mir. Nach der heißen Dusche gönnen wir uns noch ein gemeinsames Bier. Dabei erzähle ich ihm von dem Missgeschick mit der Zündbox und dass ich deshalb wahrscheinlich Richtung Heimat fahren werde. "Hm", meint Ralf, "ich habe eine Ersatz-CDI für meine Africa Twin dabei, meinst du die passt auch an deine Transalp?“ "Weiß nicht“, entgegne ich, „ es wäre aber einen Versuch wert". Den Test verschieben wir aber auf Morgen, wenn es wieder hell ist. Heute wird nur noch erzählt und das Bier zu Ende getrunken.

Noch vor dem Frühstück baue ich die Sitzbank runter. Ralf hat ein Reparaturhandbuch für seine Twin dabei und ich vergleiche die Kabelfarben im Schaltplan mit den Kabelfarben an meiner Maschine. Manche Kabel sind gleich, andere wiederum unterschiedlich gekennzeichnet. Ralfs CDI ist nahezu doppelt so groß und hat beide Steckanschlüsse an einem Gehäuse. Die Steckanschlüsse sehen identisch zu meinen aus. Soll ich es wagen? Kann was kaputt gehen? Was soll's, Stecker rein, Zündung an, Startknopf drücken und? Brummbrumm, der Motor läuft prima mit der AT-Box. Super, jubel! Es funktioniert! Die Tour ist gerettet. Jetzt noch schnell den Clip des Kettenschlosses austauschen, auch den hat Ralf mitgebracht. Als wieder alles zusammengebaut ist, packen wir unsere Siebensachen auf die Maschinen. Den Hinterreifen, den Ralf als Ersatz für meinen abgefahrenen TKC bis hierher geschleppt hat, packe ich oben auf die Gepäckrolle drauf. Ich will den Reifen noch heute montieren lassen, solange die Reifenfritzen noch anständige Montiermaschinen haben. Wer weiß, wie es weiter im Osten aussieht. Zum selbst montieren habe ich keine Lust, ich habe dabei schon oft genug den Schlauch punktiert. Als ich noch schnell den Tankrucksack aus dem Zimmer hole, fällt er mir aus der Hand und prallt hart auf den Boden. Ich hebe das Teil auf, befestige ihn mit dem Reißverschluss auf der Grundplatte am Tank und schaue rein, ob alles in Ordnung ist. Mist, ich könnte jetzt sonst was schreien. Das Objektiv hat durch den Aufprall den Bajonettanschluss aus dem Kameragehäuse herausgerissen. Der Fotoapparat ist hin. Ich kann zwar die Mechanik wieder anschrauben, aber die Blendensteuerung ist und bleibt kaputt. Die hatte ich schon mal für ein paar hundert Mark reparieren lassen. Eigentlich kann ich das Gehäuse gerade wegschmeißen :-( Normalerweise habe ich auf solchen Touren immer zwei Gehäuse dabei, warum ich diesmal darauf verzichtet? Soviel Pech hatte ich selten in einem Urlaub. Doch Ralf kann mir auch hier wieder unter die Arme greifen. Er hat neben seiner Spiegelreflexkamera noch eine kleine Ritschratschklick dabei, es passen sogar die normalen Kleinbildfilme rein. So habe ich wenigsten einen Notfotoapparat.

Nach dem Frühstück brechen wir Richtung Istanbul auf. Wir bleiben auf der Hauptstraße, da es eh nach Regen aussieht und wir bei Nässe die kleinen Straßen lieber meiden wollen. Nach einigen Kilometern kommt uns eine F650 entgegen. Wir bremsen alle und treffen uns auf dem Randstreifen. Simon ist aus Australien und hat gerade den afrikanischen Kontinent durchquert. Nun will er nach Europa, unter anderem auch nach Deutschland. Ralf erzählt ihm einiges über die Reise durch Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Außerdem gibt er ihm noch sein Pickerl für die österreichische Autobahn, da es noch eine Woche gültig ist. Von der Zeit her sollte es Simon für die Durchquerung der Alpenrepublik reichen. Zum Schluss geben wir ihm noch den Tipp, seine total abgefahrenen Reifen vor der Einreise nach österreich bzw. Deutschland gegen bessere Pendants auszutauschen, da es sonst sehr teuer für ihn werden kann.

Noch vor Istanbul suchen wir uns eine Reifenwerkstatt, bei der ich den Hinterreifen wechseln lassen kann. Das Rad baue ich natürlich selbst aus und ein. Der Monteur beherrscht seinen Job und verlangt 5 Mio. TL (ca. 2,50 €) für seine Mühen. Nachdem das Rad wieder drinnen ist, gehe ich zur Toilette, um mir die Hände zu waschen. Aber igitt, so ein stinkendes Loch habe ich selten gesehen. Es ist tatsächlich nur ein Loch im Boden und als Spülung dient eine Schüssel Wasser. Mir wird fast schlecht da drinnen. Wenn da mal der Blitz einschlägt, entsteht neues Leben ;-) Das so etwas die Leute selbst nicht stört? Wir sind sogar noch auf der europäischen Seite der Türkei, wie wird das erst weiter im Osten werden? Schnell raus an die frische Luft und die Flucht ergreifen.

Um einige Kilo Gepäck leichter, dafür mit frischer Sohle am Hinterrad düsen wir auf Istanbul zu. Ralf möchte unbedingt in die Stadt hinein. Hatten wir auf der Zubringerautobahn schon Stau und Gedrängel, so ist es in der Stadt selbst das reinste Chaos. Von allen Seiten scheinen die Autos und vor allem die Omnibusse auf uns zuzufahren. Einige der Busse haben auf den Radkappen seitlich hervorstehende Bleche, die bunt bemalt sind und sich während der Fahrt bedrohlich drehen. Wir kommen uns vor wie Ben Hur beim Wagenrennen, ständig auf der Hut vor den abstehenden rotierenden Anbauteilen der anderen Fahrzeuge. Zum Glück haben wir noch unsere Alukoffer als Abstandshalter zu den Blechkisten. Zudem halten die Busse an wo sie gerade wollen, um die Passagiere aus- und einsteigen zu lassen. Selbst in der zweiten und dritten Reihe stehen sie wenn es sein muss. Beim Losfahren ziehen sie einfach nach links raus, egal ob da andere Verkehrsteilnehmer sind oder nicht. Das ganze nur, um 10 Meter weiter wieder einzuscheren und erneut Haltestelle zu spielen. Ungefähr die Hälfte der Fahrzeuge sind Busse, ein Drittel sind Taxis und der Rest Laster und private Autos. Immer wenn wir irgendwo stehen bleiben müssen, und das ist sehr oft, rufen uns die Leute aus den Autos ein freundliches "hoş geldiniz" (Willkommen) zu. Wir antworten mit "hoş bulduk" oder rufen einfach "hello" oder "hi". Die Sonne heizt uns mächtig ein, die Abgase brennen in den Augen und wir kommen nicht richtig vorwärts. Orientierungsprobleme haben wir zwar kaum, da wichtige Gebäude ausgeschildert sind, wie zum Beispiel der Topkapı Palast, aber irgendwie erreichen wir doch nicht die andere Seite des Bosporus. Zwischendurch versuchen wir den verstopften Straßen zu entkommen, in dem wir durch kleine Gassen mit weniger Verkehr zirkeln, aber das führt auch nicht wirklich zum Erfolg. Schließlich gelangen wir an das südwestliche Ufer der Meerenge. Hier weht ein kühler Wind und die Straße ist, für Istanbuler Verhältnisse, sogar relativ frei. Zumindest kommen wir mal bis zum dritten Gang hoch. Aus der Idee mit der Fähre überzusetzen wird dann aber auch nichts, da sich die Autoschlange vor dem Terminal bis zum Maul des Bosporus zieht, sie ist also mehrere Kilometer lang. Ralf studiert den Stadtplan. In der Ferne sehen wir eine der beiden Autobahnbrücken, die nach Asien hinüber führen. Da müssen wir rüber. Im Prinzip brauchen wir nur dem Uferverlauf folgen, um zum Brückenkopf zu gelangen. Leichter gesagt als getan. Nach über einer halben Stunde  Stopp and Go kommen wir zur Auffahrt. Noch drei Ampelkreuzungen liegen vor uns. Endlich, wir sind wieder auf der Autobahn. Einziger Unterschied zu Downtown: Die Richtung ist eindeutig. Ansonsten aber ist der Verkehr genauso dicht. Irgendwann haben wir uns endlich freigeschwommen. Der Verkehr lässt nach, unser Tempo nimmt zu.

Bei Izmit füllen wir unsere Tanks nach, Ralf war schon auf Reserve. Nicht das es zu wenig Tankstellen gegeben hätte, aber wir wollten endlich aus der Stadt raus und haben es auf der Bahn richtig laufen lassen. Als wir von der Raststätte wieder auf die Autobahn fahren und auf der Beschleunigungsspur Gas geben, biegt plötzlich von vorne ein Auto entgegen der Fahrtrichtung in die Raststätte ein. Ich muss voll in die Eisen steigen, mein Heck bricht aus, die Dose hält immer noch voll auf mich zu. Ich bugsiere die schlingernde Fuhre ganz nach rechts an die Leitplanke und kann gerade noch einen Zusammenstoß vermeiden. Die drei Frauen im Auto schauen mich blöde an, und regen sich auf. Das lässt Ralf nicht kalt, vor Empörung hinterlässt er noch ein paar bleibende Eindrücke (im Blech des Autos) bevor wir unseren Weg fortsetzen. Wir wollen nun noch bis Sapanca weiter. Der Ort liegt an einem netten See, zu dem normalerweise die Sommerfrischler aus Istanbul fahren. Mittlerweile hat sich der Himmel zugezogen und droht mit einer unfreiwilligen Dusche. Da möchten wir lieber auf das Zelt verzichten und entscheiden uns für ein Zimmer direkt am See. Einige der Hotelangestellten sind ganz hin und weg von unseren Maschinen. Sie umlagern uns beim Abladen und wollen immer wieder wissen, wie groß die Motoren sind und was die Moppeds in Deutschland kosten. Nach dem wir uns fein gemacht haben, spazieren wir im Nieselregen am See entlang und suchen ein Lokal fürs Nachtessen. Wir entscheiden uns für eine stilechte türkische Spezialität: Pizza! ;-) Na ja, wenigstens der Ayran ist türkisch.

Zwar ist das Frühstücksbuffet prima, aber das Wetter lässt zu wünschen übrig. Immer wieder mal fallen einige Tropfen vom Himmel, aber zum Glück nie soviel, dass man den Regenkombi anziehen müsste. Zunächst machen wir auf der Autobahn Kilometer. Mittendrin hört diese dann auf und es geht auf einer ausgefahrenen Landstraße den Fakılar-Pass hinauf. 1996 war ich das erste Mal auf dieser Strecke unterwegs und im Jahr 2000 noch einmal. Es hat sich seither überhaupt nichts geändert. Die gleiche Umleitung, das gleiche Chaos. Je höher wir steigen, desto kälter wird es. Bevor es wieder auf die Autobahn geht, ziehen wir unsere warmen Sachen an und knöpfen das Innenfutter rein. Der Steigflug ist nämlich noch lange nicht zu Ende. Kurz hinter einer 1.580 Meter hohen Kuppe ist eine Tankstelle. Das Thermometer zeigt +1°C an, brrrr. Wir tanken die Maschinen auf und wollen noch ins Restaurant rüber etwas Warmes trinken. Vor dem Lokal stehen eine Menge großer Motorräder. Anscheinend ein türkischer Motorradclub auf Ausfahrt. Kaum haben wir unsere Kräder abgestellt, da kommen sie schon dick eingemummelt aus der Tür und wollen weiter fahren. Einige sprechen gut englisch und erzählen uns, dass das Wetter in den nächsten Tagen nicht besser werden soll. Und überhaupt, in der Osttürkei wäre es immer kalt und es würde immer regnen. "Schöne Aussichten", meint Ralf, als wir vor unserem heißen Tee sitzen. Was soll's, wir sind nicht aus Zucker, so wie unsere Kringel auf dem Teller. Ralf ist ein richtiges Schleckermaul und die Türkei ist das richtige Land für ihn. überall gibt es Süßigkeiten und Törtchen. Ständig steht er vor den Schaufenstern der Konditoreien und weiß nicht, welche der Leckereien er zuerst probieren soll. Doch vorher müssen wir noch Strecke machen, schließlich wollen wir heute noch bis nach Göreme in Kappadokien kommen. Als wir Ankara umfahren, können wir unsere Pullis endlich wieder einpacken. Wir haben die zugigen Höhen verlassen und die Wolken sind lichter geworden. Ab hier geht es auf der Landstraße weiter, und die zieht sich wie Gummi. Am frühen Abend erreichen wir UÇisehar. Im Reiseführer haben wir eine nette Unterkunft gefunden, die wir hier gleich anfahren. Das Zimmer ist zwar ziemlich klein, aber es ist blitzsauber und hat prima Bettwäsche, nicht die üblichen Laken mit Decke. Die Enduros können wir im Innenhof abstellen, direkt vor unserer Zimmertür - passt!

Die erste Tour machen wir nach Göreme, um unsere Schmutzwäsche zum Waschen abzugeben. Dann fahren wir nach Norden, da Ralf noch einen der fehlenden Confluence-Punkte einfangen möchte. Auf dem Weg zum Kreuzungspunkt der Längen- und Breitengrade, sehen wir von weitem den 3.917 Meter hohen Vulkan Erciyes Dağı bei Kayseri stehen. Dort wollen wir nachher auch noch hin. Nachdem der Schnittpunkt genommen und dokumentiert ist, düsen wir nach Kayseri weiter. Wir suchen ein nettes Café, wo wir draußen sitzen können, doch so etwas gibt es hier anscheinend nicht. Wir irren vorsichtig durch die Straßen, vorsichtig deshalb, weil der Fahrbahnbelag glatt wie Schmierseife ist. Ralf kauft noch etwas Obst ein, bevor wir zum Vulkan hinauf fahren. Als wir durch einen Vorort rollen, halten wir an einem kleinen Kiosk. Wenn wir schon kein Café finden, dann wollen wir wenigsten hier etwas trinken und eine Kleinigkeit essen, auch wenn wir dazu auf einer Treppe statt an einem Tisch sitzen müssen.

Nach der Stärkung fährt es sich gleich viel besser. Die Kurven haben Elsass-Charakter, wenn auch der Grip lange nicht so gut ist. Oben empfangen uns schneebedeckte Hänge. Wir umrunden die Basis des Berges und haben auf der anderen Seite eine prima Aussicht über eine Hochebene. Dort fahren wir erst einmal hinunter und folgen der Straße nach Süden. Als wir den Vulkankegel fast vollständig umkreist haben, nehmen wir den nächsten Abzweig nach Westen. Nun durchqueren wir eine Salzebene, die wir hier eigentlich nicht erwartet hätten. Parallel zur Straße führt eine Telefonleitung, auf deren Masten hin und wieder ein Storchennest zu finden ist. Die meisten sind sogar besetzt. Stolz steht Adebar auf einem Bein und klappert was das Zeug hält mit dem Schnabel. Rechterhand breitet sich die glatte Scheibe eines ausgetrockneten Sees aus. Mal schauen, ob man darauf fahren kann. Ich fahre den Fahrbahndamm hinunter auf die braune Ebene zu. Der Boden ist weich, aber trocken. Die Reifen hinterlassen eine Spur von mehreren Zentimeter Tiefe und man hat ein schwammiges Gefühl beim Fahren. Also lieber zurück zum festen Boden.

Wieder einmal ziehen dunkle Wolken auf und wir beeilen uns Richtung Heimat zu kommen. Nach einer weiteren halben Stunde ist es richtig schwarz vor uns. Da wir keine Lust auf Regen haben, wenden wir uns nach links und folgen dem Schild zur Teodor-Church. Wir durchqueren zwei halb verlassene Dörfer, die sich an eine Wand aus Tuffstein schmiegen. In dem Gestein sind zahlreiche Höhlen zu sehen, die früher einmal bewohnt waren. Während die altertümlichen Wohnungen in vielen anderen Orten touristisch vermarktet werden, führen die hiesigen Sehenswürdigkeiten ein eher unscheinbares Dasein. Vielleicht wollen die Einwohner hier keinen Trubel haben. Einige enge Schotterkehren führen in Richtung Bergkamm hinauf. In der vorletzten Kurve ist der Abzweig zur Kirche. Doch bevor wir dort ankommen, müssen wir noch ein schmieriges Schlammloch meistern, was uns auch gelingt. Die Kirche ist eine in den weichen Stein gehauene Höhle. Das Gitter, das den Eingang verschließt, ist offen. Vorsichtig schlüpfen wir hinein. Innen gibt es ein richtiges Kirchenschiff, einen Altarraum und einige Nebenräume. Die Wände und Decken sind bemalt, aber der größte Teil der Farbe ist den Jahrhunderten zum Opfer gefallen. Zur Not könnte man hier sicher auch übernachten. Wir wollen aber lieber ins warme Bett, wenn möglich ohne Schauer. Wir tuckern zur Piste zurück, genießen den Einblick in das Tal und fahren weiter zum Kamm hinauf. Ab hier führt nur noch ein Feldweg weiter. Wir folgen diesem, ohne zu wissen wo er genau hinführt. Dafür lernen wir recht schnell, durch was er hindurchführt, nämlich durch feuchten schmierigen Lehm. Ralf legt vor mir einen Filmreifen Stunt hin. Sein Hinterrad überholt fast sein Vorderrad, doch er rettet sich ohne Sturz aus der Situation. Ein paar Kilometer weiter haut es ihn dann doch hin. Zum Glück ist nur das Ego angekratzt. Nach einiger Zeit führt ein Weg durch eine Felsspalte zu einem Dorf ins Tal hinunter. Weg ist da etwas übertrieben, ein verspurter rutschiger Pfad mit kindskopfgroßen Steinen trifft es eher. Sollen wir uns der Herausforderung stellen? Hm, wir kneifen lieber, zu groß ist die Gefahr eines Sturzes mit Verletzungen oder Beschädigungen an den Maschinen. Wir biegen auf einen anderen Feldweg ab, umfahren das Tal und erreichen endlich eine Teerstraße, die uns nach Göreme zurückbringt. Dort holen wir unsere saubere Wäsche ab und kaufen für das Abendessen ein. Unsere Unterkunft in UÇisehar erreichen wir zu unserer Freude trocken. Da die Sonne schon fast untergegangen ist, beeilen wir uns mit dem Abendessen, das wir auf der Dachterrasse zubereiten. Vom Wirt lassen wir uns noch zwei Efes bringen und genießen das Essen im letzten Büchsenlicht.

Ich war zwar schon zweimal in Kappadokien, doch die unterirdischen Städte habe ich bisher noch nicht besucht. So ein Besuch ist demnach ein wichtiger Programmpunkt auf dieser Tour. Wir entscheiden uns für Derinkuyu und lenken die Moppeds Richtung Süden. Diese "Stadt" ist neun Stockwerke tief in den Boden gegraben worden. Hier unten ist zwar alles beleuchtet, aber das Licht fällt nur spärlich aus. Die Gänge sind eng und niedrig und man kann sich nicht vorstellen, dass hier früher tausende Menschen gelebt haben sollen. Für den über 1,90 Meter großen Ralf sind die Gänge oft eine Quälerei, da er sich oft tief gebückt durcharbeiten muss. Leute mit Klaustrophobie sollten auf einen Besuch besser verzichten. Ein Führer erklärt die einzelnen Räume, die Funktion der Luftschächte und das Leben der früheren Bewohner. Als wir am untersten Punkt der Schächte angekommen sind, gönnen wir uns eine Pause auf einer Bank und lauschen den Geräuschen. Wir hören leise Gesprächsfetzen der Führer und das Getrippel der Besucher auf den Steinstufen. Uns wird etwas komisch bei dem Gedanken, dass gerade zig Meter Erde und Gestein über uns sind. OK, machen wir uns lieber an den Aufstieg. Angst haben wir keine, aber rennen können wir ;-) Wieder an der frischen Luft, spüren wir doch so etwas wie Erleichterung. Wir marschieren zu den geparkten Zweizylindern zurück und werden dort von zwei zehnjährigen Mädchen angesprochen. "Hello, my name is Gülesh", stellt sich die eine vor. "What is your name?" Sie reicht uns die Hand bei der gegenseitigen Vorstellung und fragt weiter. "How old are you? Where do you come from? Where are you from?" Wir fragen natürlich ebenso zurück und loben ihre Englischkenntnisse. Das zweite Mädchen spricht keinen Ton, sie drückt sich an ihre gesprächige Freundin und lacht verlegen. Dann verabschieden wir uns und wenden uns einer unbefestigten Strecke Richtung Norden zu.

In einem Dorf entdecken wir einige Frauen beim Brot backen. Wir gehen hin und fragen, ob wir zuschauen dürfen. Die ältere der Frauen ruft, "yes, yes. Come, come, foto, foto!" Die beiden jüngeren Frauen sind ihre Töchter und lachen sich einen Ast, weil ihre Mutter "englisch spricht". Wir freuen uns über die Einladung und holen natürlich auch gleich unsere Fotoapparate. Zuerst müssen wir die ältere Frau mit ihren Enkeln fotografieren, sie setzt sich dazu auf einen Schemel und nimmt die beiden Kinder auf den Schoß. Die Töchter haben lange Bretter auf den Schultern, auf denen vorgeformte Teigfladen für die Brote liegen. Inzwischen ist das Feuer im Ofen heruntergebrannt. Die Glut wird auf die Seite geschoben und mit einem nassen Lappen wird der Boden des Ofens gereinigt. Dann schiebt die Oma die Teigfladen mit einem Schieber tief in die heiße Kammer hinein. Es dauert nicht lange, bis die Fladen sich aufblähen und sich zuerst hellbraun, dann dunkelbraun färben. Zwischendurch werden die Brote umgedreht und kurz angefeuchtet. In der Zwischenzeit schreibt eine der jungen Frauen ihre Adresse auf, sie möchten gerne Abzüge der Bilder zugeschickt bekommen. Als die Brote fertig sind, werden sie in einen Korb gelegt. Die Oma schenkt uns zwei der heißen Laibe und wir bedanken uns überschwänglich. Als kleine Gegenleistung teilen wir Süßigkeiten an die Kinder aus. Ralf und ich sind hin und weg von der Freundlichkeit der Frauen. Schade, dass wir nicht türkisch sprechen, wir hätten gerne noch soviel gefragt und uns über das Leben hier im Dorf informiert. Wir verabschieden uns mit dem Versprechen, die Bilder auch wirklich zuzuschicken und verstauen die Brote im Koffer. Jetzt schnell ein ruhiges Plätzchen gesucht, um über die noch warmen Geschenke herzufallen.

Das ruhige Plätzchen eröffnet sich uns als Ansammlung mehrerer Kirchen, die in eine Felsformation hineingetrieben wurden. Nach dem wir die Brote mit Appetit verspeist haben, gehen wir auf Entdeckungstour. In einigen der Felskirchen finden wir noch bemalte Wände. Der größte Teil der Farbe ist leider schon abgeblättert, aber wir finden auch einige einigermaßen erhaltene Heiligenbilder. Bei manchen Gotteshäusern sind auch Teile der Decke oder einige Wände eingestürzt. Hoffentlich fällt nicht gerade jetzt etwas zusammen, während wir uns alles anschauen. Auf dem Heimweg kaufen wir noch rasch etwas ein und besorgen Augentropfen gegen die Bindehautentzündung, die mich seit einigen Tagen plagt. Das Abendessen nehmen wir wieder auf der Terrasse ein. Das Wetter ist zwar prinzipiell gegen uns, doch wir beenden unser Freiluft-Essen gerade noch trocken. Beim Abräumen müssen wir uns jedoch sputen, sonst können wir uns das Spülen auch noch sparen. Als der Schauer vorbei ist, laufen wir noch eine Runde durch UÇisehar und klettern durch die Felsen. Auf dem Rückweg kommen wir bei einem Friseur vorbei. Hm, meine Haare könnten wieder einen Schnitt vertragen. Wir betreten den Laden und einige Jugendliche springen gleich auf und machen uns die Plätze frei. Ralf hält sich dankbar zurück doch mir ist es ernst. Der etwa 15jährigen Coiffeur bietet mir lachend an, gleich alles abzurasieren. Ich versuche daher ihm klar zu machen, dass er noch 3 Millimeter stehen lassen soll. Auch suche ich sprachliche Unterstützung bei den andern Gästen, damit ich zukünftig nicht Politur statt Shampoo in den Waschbeutel packen muss. Doch der Junge erledigt seine Arbeit zur Zufriedenheit, so dass ich nicht nein sage, als er mir auch eine Rasur anbietet. Als der Bart sauber entfernt ist, nimmt er einen Draht mit einem Wattebausch daran, taucht ihn in Alkohol und zündet die Watte an. Dann klopft er mit dem brennenden Teil in meinen Ohren herum, um auch dort die Härchen zu entfernen. So heiß habe ich mir das nicht vorgestellt, aber man kann es noch aushalten. Eine kurze Gesichtsmassage und etliche Wässerchen und Cremchen beenden die Behandlung. Ralf ist die Sache nicht ganz geheuer, er möchte seine Haare lieber behalten. Das Feuer hat ihm wohl einen Schreck eingejagt...

"Tropf, tröpfel, tröpfel!" Ein unangenehmes Geräusch weckt uns am frühen Morgen. Es regnet. Nur langsam kriechen wir aus den Betten. Das Packen macht keinen rechten Spaß und auch vom Frühstückstisch wollen wir uns nicht so recht trennen. Doch Petrus hat ein klein wenig einsehen und stoppt den Segen. Bis hinter Develi bleibt es auch trocken, aber gerade als wir in die Berge hinaufsteigen, sammeln sich riesige blauschwarze Wolken über den Gipfeln. Da müssen wir durch? Da müssen wir durch! Vorsichtshalber ziehen wir schon mal den Regenkombi an, auch wenn er nicht wirklich dicht ist. Fünf Kilometer weiter fängt es dann auch an zu Schütten wie aus Eimern. Es dauert auch nicht lange, bis das kalte Nass den Weg bis auf meine Haut gefunden hat. Schlechte Sicht, schmierige Straßen und wir frieren. Auf all das haben wir überhaupt keine Lust. Anhalten und unterstellen oder weiterfahren? Ich dränge auf Weiterfahren. Wer weiß, wie lange sich das Sauwetter hier zwischen den Bergen hält. Also vorwärts und den nächsten Höhenrücken überwinden. Einige Serpentinen führen in ein Tal hinunter. Vorsichtig bremse ich eine der Kurven an. Doch trotz aller Vorsicht blockiert das Hinterrad unvermittelt. Das Heck bricht aus und mir schießt das Adrenalin ins Blut. Bremse loslassen, Maschine aufrichten, wieder vorsichtig anbremsen und durch die Kurve eiern. Trotz der Kälte wird mir mit einem Mal so richtig heiß. Gerade noch mal gut gegangen. Solche Einlagen, wenn auch nicht immer so spektakulär, haben wir während dieser Regentour öfter als uns lieb ist. Die Straßen sind einfach zu schmierig bei Regenwetter. Nach ein paar Stunden rollen wir total durchnässt an eine Tankstelle. Die Tankwarte sind sehr bemüht um uns. Sie bringen reichlich heißen Tee und ein paar Kekse. Nach dem Aufwärmen füllen wir die Tanks und ziehen weiter. Nass sind wir jetzt eh schon.

In Karamanmaras macht der Regen eine Pause und wir tun es ihm gleich. Ralf stürzt sich gleich auf einen Händler, der in seinem fahrbaren Verkaufsstand diese süßen Kringel anbietet, die es überall in der Türkei gibt. OK, aus Kameradschaft esse ich einen mit ;-) Um uns herum hat sich eine Menschentraube gebildet und die Leute stellen uns einen Haufen Fragen, aber leider auf türkisch. Ein oder zwei Leute können ein wenig englisch, aber viel mehr als "how are you" und "whats your name" kommt nicht über ihre Lippen. Unser Fehler, dass wir nicht mehr türkisch können. Zumindest können uns die netten Leute erklären, wo wir die Hotels finden, die im Reiseführer empfohlen werden. Nach dem obligatorischen Tee lassen sie uns wieder ziehen und wir tauchen in den Verkehr Richtung Innenstadt ein. Die ersten beiden Hotels sind ausgebucht, aber beim dritten Versuch haben wir gleich doppelt Glück. Wir bekommen ein Zimmer und die Moppeds einen bewachten Platz im Parkhaus direkt hinter der Herberge. Auf dem Zimmer schälen wir uns aus den nassen Klamotten. Wir ziehen einige Wäscheleinen kreuz und quer durchs Zimmer, auf denen die nassen Sachen trocknen sollen. Nach der heißen Dusche ziehen wir frische trockene Sachen an. Ein angenehmes Wohlfühl-Gefühl macht sich breit. Anschließend ziehen wir durch den überdachten Basar der Innenstadt. Im Gegensatz du den Basaren in Tunesien oder Marokko, lässt man uns hier völlig in Frieden. Wir können ungestört stöbern und schauen. Auf der Suche nach kleinen Souvenirs kommen wir mit einem Buchhändler ins Gespräch, der uns gleich einen Tee und einen Sitzplatz anbietet. Trotz kleinerer Verständigungsprobleme macht die übliche Unterhaltung mit Händen und Füßen großen Spaß. Ein Kunde, der schon vor uns im Geschäft war, kann einige wenige Worte deutsch und hilft bei der Kommunikation. Später fotografieren wir ein Geschäft mit alten Nähmaschinen. Kurz darauf kommen die Besitzer der Nachbarläden auf uns zu und wollen samt der Auslage auch fotografiert werden. Ein Hersteller von einer Art Holzkämmen wirft extra noch mal seine Maschine an und zeigt mir wie der das Holz bearbeitet, damit am Ende ein Haarschmuck daraus wird. Nach dem die Geschäftsleute sicher sind, dass keiner von ihnen fotografisch benachteiligt wurde, verabschieden sie sich von uns. Ralf und ich verlassen den Basar und suchen ein Restaurant. Es stellt sich heraus, dass es trotz der Größe der Stadt gar nicht so einfach ist eines zu finden. Wir suchen bestimmt eine ganze Stunde lang, bis wir ein nettes Lokal finden, um unseren Hunger zu stillen.

Am Morgen ist das Wetter zur Abwechslung mal super gut. Beschwingt verlassen wir Karamanmaras auf einer vierspurigen Ausfallstraße. Plötzlich werden wir bei einer Polizeikontrolle heraus gewunken. Zunächst verstehen wir nicht, um was es geht, die Polizisten verstehen nur türkisch. Aus einem Auto, das ebenfalls von der Polizei angehaltenen wurde, steigt ein Mann der gut deutsch spricht. Er übersetzt, dass wir zu schnell gefahren seien. In der Türkei dürfen Motorräder auf der Landstraße maximal 70 km/h fahren, auch wenn die Straße noch so breit ist. Wir sind mit 104 km/h gemessen worden und sollen 170 Mio. TL (ca. 95 €) pro Person bezahlen. Mit Hilfe des deutsch sprechenden Türken diskutieren wir bis aufs Messer mit den Polizisten. Sie führen uns mehrmals den Videofilm vor und es gibt keine Möglichkeit, da wieder raus zu kommen. Da wir soviel Bargeld nicht dabei haben, wird das Vergehen in unser Triptik eingetragen. Bei der Ausreise müssen wir dann an der Grenze unsere Strafe begleichen.

Verärgert fahren wir weiter und haben kaum Augen für die Landschaft. Bis zum Horizont ziehen sich grüne Felder. Ab und zu liegt ein Dorf wie eine Insel inmitten der wogenden Halme. Der LKW Verkehr hat stark zugenommen und die überholvorgänge kosten uns viel Aufmerksamkeit. Gegen Mittag legen wir eine kurze Pause sein. Als wir wieder aufsteigen wollen, hält ein Auto mit zwei Uniformierten an. „Where do you come from?“, bellt der Beifahrer aus dem Fenster. “Germany”, antworten wir. „Come!“ Erwidert er barsch, zeigt auf die Jandarma-Station, die etwa 150 Meter vor uns liegt und lässt seinen Fahrer langsam Richtung Station rollen. Ralf schaut mich erstaunt an. Er würde am liebsten weiter fahren. Aber was wäre, wenn die uns über Funk an der nächsten Station stoppen lassen? Also tuckern wir lieber hinterher. Vor dem Tor sollen wir unsere Helme und Rucksäcke an den Maschinen lassen und dem offensichtlich als Chef auftretendem Soldaten folgen. Innerhalb der Befestigungen stehen Tische und Stühle im Schatten einiger Bäume. Kaum sitzen wir, wird auch schon Tee gebracht. Alle sind auf einmal sehr nett und freundlich, einige sprechen sogar einigermaßen englisch. Zwei der Soldaten stellen uns ihre Frauen und Kinder sowie eine unverheiratete Schwester vor. Natürlich versuche ich gleich Ralf unter die Haube zu bringen, aber das missfällt ihm doch etwas und er versucht sich da wieder rauszuwinden ;-) Die Familien berichten über ihren Alltag und wollen auch einiges über unser Leben in Deutschland wissen. Etwas später werden, zur Freude von Ralf, auch einige der üblichen süßen Kringel gereicht. So nett die Leute auch sind, aber irgendwann wollen wir weiter fahren. Wir schießen noch einige Fotos und versprechen, ihnen Abzüge zuzuschicken. Sehr herzlich werden wir verabschiedet. Warum die „Einladung“ so barsch vorgetragen wurde, haben wir bis heute nicht verstanden.

Auf den weiteren Kilometern haben wir immer neue Ausblicke auf den Atatürk Stausee. Er hat keine rundliche oder längliche Form sondern verästelt sich in viele Täler und Nebentäler. Hinter jeder Kurve sieht die Wasserfläche anders aus. Doch bevor wir in die Nähe des Ufers kommen, biegen wir zum Nemrut Dağı ab. Auf der Suche nach dem Confluence Punkt N 38° 00,00’ E 39° 00,00’ verfahren wir uns etwas. In der gebirgigen Gegend ist es nicht immer möglich einen Punkt direkt anzufahren. Nach einigem Hin und Her kommen wir den gesuchten Koordinaten immer näher. Leider nur bis auf 130 Meter, dann stoppt uns das Seeufer. Der gesuchte Schittpunkt liegt irgendwo vor uns im Wasser. Schade, so kurz vor dem Ziel scheitern wir. Aber das macht die Suche nach den Punkten auch so spannend, man weiß nie was einen erwartet und ob man erfolgreich sein wird. Wir dokumentieren den "unerreichbaren" Punkt und setzen unseren Weg fort. Die Sucherei hat uns viel Zeit gekostet, die Sonne ist schon hinter dem Horizont verschwunden. Im letzten Büchsenlicht erreichen wir die „Pansiyon Karadut“ am Fuße des Nemrut Dağı.

Schon früh am Morgen machen wir uns auf den Weg zum Gipfel. Die Straße besteht aus groben Pflastersteinen, die uns mächtig durchschütteln. Auf den letzten Kilometern geht es ziemlich steil den Berg hinauf. Mit dem vollen Gepäck muss man in den Kehren schon etwas aufpassen. Auch das Abstellen der Moppeds ist auf dem schrägen Boden nicht ganz so einfach. Das Pflaster endet schließlich ein Stück unterhalb des Gipfels vor einem Café mit Souvenirstand. Ab hier geht es zu Fuß weiter und laut Reiseführer sollte man dazu etwa 20 Minuten einplanen. Der Pfad ist ziemlich schmal und ausgetreten und man muss aufpassen wo man hintritt. Wegen der fantastischen Rundumsicht brauchen wir fast doppelt so lange wie im Buch angegeben. Auf der einen Seite erkennen wir den Atatürk Stausee am Horizont, auf der anderen Seite breitet sich eine tolle Bergwelt aus. Gut, dass der Himmel heute wieder wolkenlos ist und diese Sicht zulässt. Der Gipfel besteht aus einem riesigen Haufen faustgroßer Steine, den seinerzeit König Antiochios I. als Grabmal hatte aufschütten lassen. Der König der Kommagene wollte sich auf eine Stufe mit den Göttern stellen und ein unübersehbares und wahrscheinlich auch unvergängliches Grabmal schaffen. Am Fuß des Kegels stehen zwei gegenüberliegende Terrassen (früher sollen es einmal drei gewesen sein) mit kolossalen Götterfiguren. An jedem Todes- und Krönungstag sollte sein Volk ihm huldigen und Opfer darbringen. Die Grabstätte auf dem Nemrut Dağı zieht zwar viele Besucher an, aber leider haben  Erdbeben,  Erosionen und natürlich Menschen, die Steinernen Zeugen der Vergangenheit in den vergangenen  Jahrtausenden fast zerstört. Früher war der künstliche Hügel einmal 75 Meter hoch, durch die Besteigung zahlreicher Touristen wurden jedoch so viele Steine heruntergetrampelt, dass die heutige Höhe nur noch 50 Meter beträgt. Klar, dass man den Steinhügel heute nicht mehr betreten darf. Durch die Erdbeben fielen die mannshohen Köpfe von ihren Thronen und lagen verstreut herum. Mittlerweile wurden sie vor der Thronreihe wieder aufgestellt. Irgendwann sollen sie auch wieder an ihren angestammten Platz gehoben werden. Die besten Zeiten für Besichtigungen sind früh morgens zum Sonnenaufgang und abends zum Sonnenuntergang. Das Spiel aus Licht und Schatten ist sehenswert und die Götterköpfe strahlen dazu im hellen Glanz.

Wir kurven ins Tal zurück und wollen den Stausee mit der Fähre überqueren. Als wir zum Anleger kommen, sehen wir gerade noch, wie die Fähre abfährt. Auf einem großen Schild stehen die Abfahrtszeiten, demnach müssen wir nun zwei Stunden warten. Neben der Anlegestelle ist ein Café mit Tischen unter einer schattigen Laube. Wir bestellen Tee und suchen uns aus einem riesigen Angebot verschiedener Kekssorten zwei verschiedene Packungen aus. Wir genießen die Stille und dösen vor uns hin. Etwa eine halbe Stunde bevor die Fähre anlegen soll, sammeln sich immer mehr Autos vor dem Café. Nun ist es mit der Ruhe vorbei. Autoradios dudeln, Kinder tollen herum und die Erwachsenen unterhalten sich lautstark. Das Boot legt zwar pünktlich an, aber es dauert dann noch fast 30 Minuten, bis die ersten Fahrzeuge auf die Rampe fahren dürfen. In der Zwischenzeit schweißt die Mannschaft an irgendeinem Ersatzteil herum. Die Autos werden links und rechts an der Reling entlang postiert, in der Mitte bleibt eine Gasse frei. In diese Gasse sollen dann die beiden Lastwagen bugsiert werden, die noch in der Warteposition stehen. Als der erste auf das Schiff rollt, neigt sich der Bug plötzlich tief nach unten. Die Leute halten sich schnell an allen möglichen Stellen fest, einige Frauen schreien kurz auf. Im ersten Moment denke ich, dass die Fähre kentert, aber das Boot stabilisiert sich zum Glück wieder. Als der zweite Laster draufrollt, verhält sich der Seelenverkäufer glücklicherweise etwas friedlicher. Ganz zuletzt fahren wir unsere Maschinen auf das Deck. Die überfahrt ist angenehm, trotz einiger Bedenken über die Seetüchtigkeit des rostigen Kahns, und dauert nur 15 Minuten. Auf der anderen Seite angekommen, klettern wir über einen ausgefahrenen leicht geschotterten Weg einen steilen Berg hinauf. Eine ganze Zeit lang fahren wir dann auf einer Hochebene entlang. Der Wind pfeift stramm von der Seite, wir müssen mit etwas Schräglage geradeaus fahren. Links und rechts der Straße suchen zerzauste Schafe auf steinigen Weiden nach Nahrung. Später verlieren wir wieder an Höhe und fahren durch riesige Getreidefelder. Immer wieder treffen wir auf Mähdrescher, anscheinend soll die Ernte beginnen. Am Abend erreichen wir Şanlı Urfa. Bevor wir ganz in die Stadt hinein kommen, suchen wir im Reiseführer nach geeigneten Unterkünften. Das für uns beste Preis-/Leistungsverhältnis hat das Hotel Bakay, in dem normalerweise muslimische Pilger absteigen. Nach den weltpolitischen Geschehnissen in letzter Zeit fragen wir uns, ob das wirkliche eine so gute Idee ist. Irgendwie macht sich etwas Angst vor Extremisten breit. Doch wir haben den Islam als tolerante Religion kennen gelernt und waren auch schon öfter an Orten mit überwiegend sehr gläubigen Menschen unterwegs. Die langen Bärte erinnern zwar oft an afghanische  Mudschaheddin und in Gedanken addiert man immer noch eine geschulterte Waffe hinzu, doch sind wir bisher immer freundlich und zuvorkommend aufgenommen worden. Der Text im Führer mahnt noch, in dieser Herberge die Finger vom Alkohol zu lassen. Wir sind eh nicht zum Trinken hier, versuchen wir also diese Unterkunft zu finden. Trotz des dichten Verkehrs und den spiegelglatten Straßen erreichen wir rasch unser Ziel. Wir bekommen unser Zimmer und einen abgeschlossenen überdachten Platz für die Maschinen. Die Pilger dort sind ganz normale nette Menschen, keiner will uns fressen. Da hat uns doch die Fantasie, beeinflusst durch die teils einseitige Berichterstattung der Medien, einen kleinen Streich gespielt.

Die Stadt heißt eigentlich nur Urfa. Das vorangestellte Wort Şanlı ist ein Ehrentitel und bedeutet ruhmreich. Diesen Titel hatte sich die Stadt im ersten Weltkrieg verdient, als deren Bewohner erbitterten Widerstand gegen die alliierten Besatzungsmächte leisteten. Doch der Ort hat noch weitere interessante Seiten. Abraham soll ca. 2.000 bis 1.800 vor unserer Zeitrechnung hier geboren worden sein. Im Mittelalter war die Stadt ein bedeutendes christliches Zentrum und wurde von Byzantinern, Arabern, Seldschuken und Armeniern stark umkämpft. Mitte des 12. Jh. wurde die Stadt völlig zerstört. Anfang des 16. Jh. herrschten dort die Osmanen, später waren kurzzeitig auch die ägypter an der Macht. Auch die Franzosen besetzten den Ort Anfang des 20. Jh. Durch die ständig wechselnden Besitzer und die damit einhergehenden Zerstörungen ist kaum mehr etwas von der historischen Bausubstanz erhalten. Die Ulu Moschee (Ulu Cami) stammt aus dem 12. Jh. und ist eine der ältesten Gebäude der Stadt. Sie wurde auf den Grundmauern der Stephanuskirche gebaut aus der Zeit um 550 gebaut. Das achteckige Minarett war damals der Glockenturm der Kirche.

Von Şanlı Urfa aus machen wir einen Abstecher nach Süden, bis fast zur syrischen Grenze hinunter. Im Dorf Harran gibt es noch einige Häuser, deren Dächer wie Bienenkörbe geformt sind. Diese Dachform hält die Gebäude kühl und erleichtern das Leben in der Sommerhitze. Gleich neben dem Dorf liegt eine römische Ausgrabungsstätte, zu der busseweise Touristen gekarrt werden. Durch den regelmäßigen Besucheransturm haben die Kinder und Jugendlichen eine Einnahmequelle für sich entdeckt. Die Jungs bieten sich als Führer an, die Mädchen verkaufen Selbstgebasteltes. Etwas nervig sind die Kids schon. Die selbsternannten Führer merken jedoch schnell, dass wir auf ihre Dienste nicht angewiesen sind. Die Bustouristen sind da ein lohnenderes Ziel. Die kleinen Mädels mit ihren gebastelten Püppchen, Schleifen und Sträußen sind da viel hartnäckiger. Aber sie suchen auch eine normale Unterhaltung, fragen nach unseren Namen, woher wir kommen usw. Zwischendurch bietet sie dann immer wieder ihre Waren feil. Nachdem wir gegen Mittag die überlaufene römische Ruine und die hergerichteten Bienendachhäuser besichtigt haben, wird es uns langsam zu heiß und wir sehnen uns nach kühlendem Fahrtwind.

Ralf führt uns in Richtung des nächsten Confluence Punktes, N37°00,00' E39°00,00'. Seit dem letzten unerreichbaren Schnittpunkt heißen sie bei mir nur noch Confusion Points. Wir fahren durch eine riesige Anbaufläche mit rechtwinklig angelegten Feldwegen und Bewässerungskanälen. Es ist nicht einfach den Weg zum Punkt zu finden, da wir ja auf die Lage und Richtung der Pisten angewiesen sind und die Kanäle nur an bestimmten Stellen überqueren können. Durch die Trockenheit staubt es zudem fürchterlich und wir müssen mit großem Abstand zueinander fahren. Nach einigem umherirren sind wir bis auf 120 Meter an den imaginären Schnittpunkt herangekommen. Nun geht es zu Fuß in ein Feld hinein. In langen Reihen sprießt junges Grün aus dem Boden. Zwischen den Reihen ist aber genügend Platz für unsere Füße, so dass wir nichts niedertrampeln. Dann beginnt der "Confluence Dance". Wir laufen stückchenweise hin und her, vor und zurück, bis die Kommastellen hinter der Gradangabe des GPS-Empfängers alle auf Null stehen. Ralf fotografiert alles notwendige, dann staksen wir zu den Maschinen zurück.

Am Nachmittag sind wir wieder in Urfa zurück. Wir stellen die Maschinen beim Hotel ab, ziehen uns um und laufen in die Stadt hinein. Wir schauen uns die Ula Camii an und laufen weiter zur Dergah. Die Dergah ist eine gepflegte Anlage aus mehreren Moscheen, die in einer Art Park zusammen stehen. Hier ist auch die Geburtsgrotte von Abraham, der auch im Islam als Prophet verehrt wird. Ein Stück von der Grotte entfernt, liegen die heiligen Karpfenteiche. Der Legende nach wollte Abraham den damaligen König Nimrod und dessen Volk von der Existenz eines einzigen Gottes überzeugen. Dafür wurde er zum Tode verurteilt und sollte mit einem Katapult von der Festung oberhalb der heutigen Moscheen in einen Scheiterhaufen geworfen werden. Gott soll den Scheiterhaufen in einen Teich und die Glutbrocken in Karpfen verwandelt haben. Die Nachkommen der dieser Karpfen tummeln sich heute dicht gedrängt in diesem Teich und werden als heilig verehrt. Man darf sie füttern, aber niemals essen, sonst würde man sofort mit Blindheit gestraft werden.

Wir spazieren durch die ganze Anlage und steigen auch zur Festungsruine hinauf. Von hier oben kann man den Blick über die gesamte Ebene und die Stadt Urfa schweifen lassen. Nachdem wir wieder in den Park hinab gestiegen sind, suchen wir uns ein schattiges Plätzchen an einem der zahlreichen Tische im Freien des gut besuchten Parkcafés. Wir trinken kühlen Ayran und warten den Sonnenuntergang ab. Als es dämmert und die abendliche Kühle uns wieder in die Stadt lockt, besuchen wir den Basar. Im Gegensatz zu vielen anderen Märkten machen die Läden hier kurz nach Sonnenuntergang dicht, deshalb müssen wir uns nun sputen. In der letzten Dämmerung bieten die fahrenden Händler mit ihren Karren das übrig gebliebene Gemüse zu Sonderpreisen an. Alles was jetzt nicht verkauft wird, ist morgen nicht mehr an den Kunden zu bringen. Als wir so dastehen und interessiert dem Treiben zuschauen und zuhören, kommt plötzlich eine junge Frau auf uns zu und schenkt jedem von uns eine handvoll Kirschen und einige grüne Mirabellen. Die Mirabellen sind unreif. Komisch, was die hier so essen. Später sollen wir noch erfahren, dass dieses Obst hier nicht als süße Frucht sondern mit Salz gegessen wird. Die Kirschen essen wir selbst, aber die Mirabellen schenken wir auf dem Rückweg einigen Kindern.

Es geht weiter nach Osten, unser heutiges Etappenziel soll Batman sein. Der Ort schreibt  sich wie der maskierte Superheld, es ist aber wirklich eine Stadt in der Türkei. Unterwegs kommen wir recht bald ins Schwitzen. Morgens um 10:00 Uhr haben wir schon 32°C, und das auf 700 Meter Höhe. Kurz hinter Viranşehir werden wir wieder von einem Radarwagen gefilmt. Noch bevor ein Stück weiter vorn die eigentliche Polizeikontrolle kommt, folgen wir einem ausgefahrenen Feldweg nach Norden und umfahren so die Exekutive. Der Strafzettel vor einigen Tagen war schon teuer genug. Die Felder, durch die unser Weg führt, werden durch einige nackte Bergrücken begrenzt. Irgendwie erinnern uns diese Felswände an die versteinerten Korallenriffe bei Zagora in Marokko. Eine ganze Zeit lang eiern wir über staubige Wege. Kurz vor Derik erreichen wir wieder eine Asphaltstraße. Wir lassen das Städtchen rechts liegen und machen erst in Mazıdağı halt, um dort einen Tee zu trinken. Wir sitzen direkt an der Straße, auf einer schattigen Veranda. Vor dem heißen Tee stürzen wir erst einmal eine kalte Cola runter. Im Laden gegenüber besorge ich zwei Rollen Kekse, natürlich Sorten, die wir bisher noch nicht probiert haben. Die beiden jungen Türken, die den Laden führen, wollen sich gerne mit uns unterhalten, aber es hapert mit der Verständigung. Da holen sie Verstärkung in Form eines Englischlehrers vom hiesigen Gymnasium. Nun können wir uns zwar austauschen, aber die Englischkünste des Pädagogen sind eines Lehrers nicht würdig. Es reicht gerade für eine einfache Konversation. Dennoch kein Grund für uns zum Klagen. Die Leute geben sich Mühe und sind überaus nett. Schließlich sind wir hier die Fremden, die nichts verstehen. Sie raten uns von Batman ab, der Ort sei nicht schön, es gäbe dort nur Industrieanlagen. Wir sollen viel lieber nach Diarbakir, der (heimlichen) Hauptstadt der Kurden fahren. Diese Stadt wäre viel schöner und interessanter als Batman. OK, wir lassen uns überreden, wenn die Einheimischen das sagen, wird es schon stimmen. Trotz unseres Drängens nehmen sie kein Geld von uns an, die Getränke gehen auf Kosten des Hauses.

Wir ändern die ursprüngliche Richtung nur wenig und halten nun auf Diarbakir zu. Kurz nachdem wir den Tigris überquert haben, rollen wir auch schon in die Stadt ein. Der Stadtplan im Reiseführer hilft uns nur grob weiter, irgendwie finden wir die Ecke mit den Hotels nicht so recht. Erst die Auskunft einiger Passanten hilft uns auf den richtigen Weg. Neben einem großen Platz hat es zig ineinander verschachtelte Herbergen. Das Haus unserer Wahl verlangt aber fast das Doppelte von dem Betrag, der im aktuellen Reiseführer angegeben wird. Wir verzichten dankend und suchen eine günstigere Unterkunft. Die finden wir dann auch. Allerdings ist sie das Geld eigentlich nicht wert. Das was wir bis jetzt gesehen haben macht aber nicht den Eindruck, als ob sich die Angebote bessern würden. Für eine Nacht wird es schon gehen.

Nachmittags machen wir einen Spaziergang durch die Stadt. Der Ortskern ist von einer riesigen Stadtmauer umgeben, die wir uns anschauen möchten. Die Mauer ist schwarz und verstärkt den beklemmenden Eindruck noch, den die ungepflegten und teils verfallenen Häusern auf uns ausüben. über eine Treppe in einem Eckturm wollen wir auf die Mauerkrone hinauf. Es ist dunkel im Treppenschacht, überall stinkt es nach Exkrementen. Mir wird fast schlecht. Kaum sind wir oben an der frischen Luft, winken uns Wachsoldaten einer nahe gelegenen Jandarma-Station zu, dass wir sofort wieder runter sollen. Also schauen wir uns die alten Steine nur von unten an. Die Jandarma-Station ist mit S-Draht Rollen umgeben, die Zufahrt zum Tor mit Panzersperren  gesichert. Es liegt eine seltsame Ruhe über der Stadt, obwohl im Vergleich zu anderen Orten viel mehr Menschen auf der Straße sind. überall wuseln die Massen scheinbar orientierungslos umher. An jeder Ecke stehen Männer uns bieten alles Mögliche zum Verkauf an. Die Leute starren uns auf merkwürdige Art an. Kinder kommen auf uns zu und rufen: „money, money!“ Nichts erinnert an die netten Erlebnisse mit den Kindern die wir bisher getroffen haben. Wir hatten zwar vorher schon gelesen, dass während des türkisch-kurdischen Krieges in den 1980er Jahren Hunderttausende von Arbeits- und Obdachlosen in die Stadt gezogen sind, aber ein solches Elend haben wir uns nicht vorgestellt. In einer Straße parkt ein altes Motorrad, das Ralf fotografiert. Unweit daneben sitzen acht oder zehn Männer im Kreis und fragen mit Händen und Füssen, warum er das Fahrzeug ablichten würde. Ralf versucht auf gleiche Weise zu antworten, dass wir auch mit Motorrädern unterwegs seien und uns die alten Modelle gefallen würden. Nachdem auch geklärt ist, dass wir aus Deutschland kommen, werden wir zum Tee eingeladen. Die Unterhaltung ist mühsam, jedoch sehr freundlich. Mehrmals kommt zur Sprache, dass zwischen Deutschen und Kurden eine besondere Freundschaft bestehe. Alle Amerikaner jedoch solle man davonjagen (oder schlimmeres mit ihnen machen).

Vor einer ehemaligen Karawanserei spricht uns ein junger Mann an und lädt uns in sein Geschäft ein. Seine Familie verkauft allerlei antike Sachen und auch Teppiche. Wir wollen zwar keinen Bodenbelag kaufen, aber es ist immer interessant, sich mit den Teppichverkäufern zu unterhalten. Auf die Frage, wie es denn im Moment mit den türkisch-kurdischen Beziehungen aussehen würde, antwortet er, dass alle Türken und Kurden Brüder wären. Die Spannungen seien alle politischen Ursprungs und deckten sich nicht mit dem Wunsch beider Völker nach friedlichem Zusammenleben. Er spricht auch über den Irak-Krieg und dessen Folgen für die Menschen hier im Grenzgebiet. Normalerweise halten wir uns aus politischen Diskussionen heraus, aber die Anregungen kommen immer von der Seite der Verkäufer und wir beteiligen uns eher zurückhaltend daran. Dann bekommen wir Tee gereicht und langsam entwickelt sich das Gespräch weg von der Politik und hin zum Verkauf. Wunderschöne Teppiche werden ausgebreitet, deren Muster erklärt und verschiedenen Gebieten zugeordnet. Die Qualitäten der Waren werden angepriesen und für uns gäbe es natürlich Sonderpreise. Seit zehn Jahren seien so gut wie keine Touristen hierher gekommen, meinen sie, deshalb wären die Preise auch so niedrig. Das ganze Repertoire kennen wir schon in und auswendig, wir sind ja nicht das erste Mal in den Fängen eines Teppichverkäufers. Wie gewohnt gibt es keine Ausrede, um keinen Teppich zu kaufen. Für jeden Grund, warum man keinen Teppich brauchen könne, wissen die findigen Verkäufer eine Lösung. Doch wir sind nicht weniger erfinderisch, am Ende trennen wir uns ohne Teppich, aber dennoch freundschaftlich von den geschäftstüchtigen Kurden.

Abend essen wir in einem Restaurant, schräg gegenüber vom Hotel. Da wir kein Fleisch essen, Ralf eher aus überzeugung, ich versuche in orientalischen Ländern generell darauf zu verzichten, zeigen wir dem Kellner die türkische übersetzung dafür im Reiseführer. Nun bekommen wir Gemüse und Obst aufgetischt. Vor uns stehen Teller mit Kirschen, Melonenstückchen und Nüssen, sowie ein Schälchen Kartoffelsalat und ein Teller mit einer Art Frischkäse. Dazu trinkt jeder von uns ein Glas Fanta. Als die Bedienung die Rechnung bringt, fallen wir aus allen Wolken. 60.000.000 TL (ca. 30 €) steht auf einer Serviette gekritzelt. Zuerst denken wir, dass es sich schlicht und einfach um eine falsche Kommastelle handelt, 6 Mio. TL wäre ein angemessener Preis gewesen. Doch das Personal meint wirklich 60 Mio. Wir diskutieren und schimpfen eine ganze Weile. Irgendwann bekommen wir eine ausführliche Aufstellung der Kosten gebracht. Nun sind es nur noch 35 Mio. TL, also fast die Hälfte des vorherigen Betrages. Die wollen uns gnadenlos über den Tisch ziehen. Ralf legt 15 Mio. auf den Tisch, mehr wollen wir nicht geben und selbst das ist viel zu viel. Langsam werden die Kellner handgreiflich und versuchen Ralf aus dem Lokal zu drängen, er habe ja seinen Teil bezahlt, und wollen sich dann auf mich stürzen, um sich den Rest zu holen. Ralf spricht andere Gäste am Nebentisch an, die etwas englisch verstehen und versucht sie auf unsere Seite zu ziehen. Die Taktik geht auf, letztendlich kommen wir mit insgesamt 20 Mio. TL und heiler Haut aus dem Laden raus. Verärgert, aber gleichzeitig auch froh über den Ausgang, laufen wir zum Hotel zurück. Aber nicht auf direktem Weg, wir schlagen einige Haken und wollen schauen, ob uns jemand folgt. Man weiß ja nie, wie manche Leute reagieren. Scheinbar will keiner mehr was von uns, also verziehen wir uns aufs Zimmer und freuen uns auf den Moment, wo die Stadt endlich hinter uns liegt …

Wir haben die mesopotamische Tiefebene hinter uns gelassen und kurven über Bergstraßen auf den Vansee zu. Vor kurzem scheint das parallel fließende Flüsschen Hochwasser geführt zu haben, die Straße ist zum Teil weggespült worden und die Büsche und Bäume am Ufer sind meterhoch mit Müll beladen. Die Jandarma-Stationen, die alle paar Kilometer an der Straße stehen, sind mit Sandsäcken und S-Draht Rollen befestigt. Zusätzlich stehen Schützenpanzer oder gar Kanonenjagdpanzer in Stellung. Wir haben manchmal das Gefühl eher im Irak unterwegs zu sein. In Bitlis wollen wir eigentlich Halt machen und uns einige der verbliebenen uralten Holzhäuser ansehen. Doch der Verkehr in dieser Stadt ist echt schlimm und sobald wir anhalten, sammeln sich sofort Menschentrauben um uns herum. Alles müssen die Leute anfassen, auf dem GPS herumdrücken, am Gepäck ziehen, auf die Protektoren in unseren Jacken klopfen. Wir fühlen uns unwohl und bedrängt, so verzichten wir lieber auf die Sehenswürdigkeiten und fahren rasch weiter.

Kurz vor Tatvan führt eine Straße zum Vulkan Nemrut hinauf. Der Berg heißt zwar genauso wie der andere Vulkan, auf dem wir vor einigen Tagen waren, ist jedoch ein ganz anderer. Der Weg ist teilweise von meterhohen Schneefeldern überzogen, in die jedoch mit Schneefräsen eine fahrbare Gasse hinein gegraben wurde. Je weiter wir hinaufsteigen, desto schöner ist die Sicht über Tatvan und einen Teil des Vansees. Der See liegt auf einer Höhe von ca. 1.700 Metern und ist mit 3.700 Quadratkilometern etwa siebenmal größer als der Bodensee und der größte See der Türkei. Meist leuchtet er türkisblau in der Sonne, an manchen Stellen schein er gar weiß zu sein. Wahrscheinlich ist der Nemrut Dağı, auf dessen Flanke wir gerade stehen, dafür verantwortlich, dass der Vansee ohne Abfluss ist. Man vermutet, dass durch eine starke Eruption eine natürliche Staumauer entstanden ist, welche die Verbindung vom Seeniveau hinunter ins Tal verschlossen hat. Umrahmt ist der See vor einigen, bis zu 2.300 Meter hohen, meist schneebedeckten Bergen. Leider haben heute Regenwolken den Himmel verdunkelt und begrenzen auch die Fernsicht. Nach einigen weiteren Kilometern liegt tiefblau der Kratersee vor uns. über eine holprige Piste arbeiten wir uns zu seinem Ufer hinunter. Hier wäre ein malerischer Platz zum übernachten, doch die Berghänge sind teilweise schneebedeckt, dementsprechend kalt ist es hier. Der Regen lässt sicher auch nicht mehr lange auf sich warten. Wir erkunden noch einige Pisten, bis es zu tröpfeln anfängt. Bevor der Boden jetzt richtig schmierig wird, eilen wir ins Tal nach Tatvan zurück. Das Hotel üstün hat es uns sofort angetan. Das Zimmer ist klein aber sauber und das Personal sehr nett. Die Maschinen stellen wir mit viel Aufwand in den winzigen Vorgarten. Dazu muss ich die Koffer abbauen und zu fünft heben wir den Bock über den Absatz durch das enge Türchen. Die Koffer an Ralfs Twin sind nicht so einfach zu entfernen. Dementsprechend mühselig ist es, seine Maschine hinter das Gitter zu bringen. Doch irgendwann haben wir auch das geschafft. Zur Feier des Erfolges setzt oder besser legt sich der uralte Chef des Hotels auf die Maschine und lässt sich stolz fotografieren.

Am frühen Abend macht der Regen eine Pause und wir wollen den Ort erkunden. Doch zuerst gehen wir zum Ufer des Vansees hinunter. Gespeist wird der See im Frühjahr durch das Schmelzwasser aus den Bergen. Weil der See ohne Abfluss ist, kann das Wasser nur in Form von Verdunstung entweichen, dadurch bleibt der Spiegel einigermaßen konstant. Durch das Verdunsten, steigt aber die Konzentration der Mineralien an, wodurch das Seewasser stark sodahaltig ist. Das Wasser fühlt sich ölig an und brennt in kleinen Wunden der Haut. Badespaß will da nicht so recht aufkommen. Die Lust am Baden vereiteln aber auch die Müllberge am Ufer und einige schmutzige Abflussbäche aus dem Ort. Später, in der Stadt, werden wir vom Leiter der dortigen Handelskammer angesprochen. Er erzählt uns einiges über seine Arbeit, über die Stadt, aber auch über sich und seine Familie. Als wir weiter gehen, werden wir bald darauf vor einem Teelokal wieder mal zum Tee eingeladen. Den türkischen Nachrichten haben wir zufällig entnommen, dass FenerbahÇe Istanbul in diesem Jahr Meister geworden ist. Obwohl sowohl Ralf als auch ich keine Fußballfans sind, kommen wir damit gut ins Gespräch. Die Leute sind begeistert, dass wir die ein oder andere türkische Mannschaft kennen und auch einige deutsche Mannschaften und Spieler (zufällig) parat haben. Zum Abschied werden wir umarmt und mit vielen Grüßen bedacht. Bevor wir ins Hotel zurück gehen, essen wir in einem kleinen Restaurant. Diesmal fragen wir aber vorher nach dem Preis. Danach gönnen wir uns noch einen Besuch in einer Konditorei. Ralf sucht sich einen Haufen leckerer Dinge aus, ich dagegen möchte nur ein klein wenig davon kosten. Dann melden wir uns noch schnell per Internet zuhause und geben Standort und die weiter geplante Strecke durch.

Ein wunderbarer Tag weckt uns am Morgen. Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne goldgelb. Hinter Tatvan empfangen uns zahlreiche Kurven in grünen Tälern und tragen uns bis auf über 2.000 Meter hinauf. Auf den Feldern rackern sich Bauern mit Holzpflügen ab. Durch die harte Arbeit haben sie sicher kein Auge für die schöne Natur. Die Sorge um das tägliche Brot steht im Vordergrund. Etwas weiter erreichen wir bei Van wieder das Seeniveau. Hier ist das Ufer ein klein wenig touristisch ausgebaut. Die Infrastruktur ist zwar nur rudimentär vorhanden, doch die Preise sind schon so hoch wie in Mitteleuropa. Wir rollen durch die Stadt und halten uns weiterhin parallel zum Seeufer. Am Nordöstlichsten Punkt des Vansees schwenken wir auf die iranische Grenze zu. Die Straßen sind nun klein und außer uns ist kaum jemand unterwegs. Leider verabschiedet sich hier auch das gute Wetter, der Himmel zieht sich traurig zu. Wir klettern bis auf 2.640 Meter hinauf und müssen uns nach und nach warme Sachen drunterziehen. Wenigstens haben wir ab und zu einige imposante Aussichten. Nur der 5.137 Meter hohe Ağrı Dağı, uns eher als Ararat bekannt, auf dem Noahs Arche gestrandet sein soll, versteckt sich leider ständig hinter dicken Wolken.

Am frühen Nachmittag erreichen wir die Grenzstadt Doğubayazit. In Gedanken habe ich mir ein ähnliches Chaos wie in Bitlis vorgestellt. Prima, denn nun bin ich angenehm überrascht. Die Leute lassen uns in Ruhe und der Verkehr ist auch überschaubar. Bevor wir uns um ein Nachtlager kümmern, fahren wir zum İshak Paşa Sarayı hinaus. Die Palastanlage erhebt sich auf einer Felsnase über die weite Ebene Doğubayazits. Im Osten umrahmt eine Bergkette die Festung, deren Hänge lange Zeit im Jahr schneebedeckt sind. Der kurdische Emir İshak Paşa ist durch Raubzüge und Wegezölle sehr reich geworden und gab dem Gebäude im 18. Jh. Sein heutiges Gesicht. Die Grundsteinlegung durch die Urartäer geht auf das 9. Jh. Vor unserer Zeitrechnung zurück. Zahlreiche weitere Herrscher bereicherten in der Zwischenzeit den Palast durch An- oder Umbauten.

Da sich der Ararat noch immer bedeckt hält, suchen wir uns nach der Besichtigungstour ein Hotel in der Stadt. Entgegen unserer Erwartungen sind die Preise recht zivil und unser Zimmer gar riesig groß, zumindest im Vergleich zu den bisherigen Unterkünften. Vor dem Duschen sehen wir noch unsere Maschinen etwas genauer durch. ölstandskontrolle, Kette schmieren, Reifenzustand usw. Morgen werden sich nämlich unserer Wege trennen, ich fahre Richtung Heimat, Ralf hat noch etwa zwei Wochen Zeit. Wenn jeder wieder alleine Unterwegs ist, sollte der fahrbare Untersatz erst recht in gutem Zustand sein. Während des obligatorischen Stadtbummels gehen wir gleich zweimal essen. Da es jedes Mal nur einen kleinen Salat und ein Glas Ayran gibt, artet es auch nicht in Völlerei aus. Heute Abend gehen wir auch zeitig ins Bett, denn wir wollen schon früh am nächsten Morgen los.

Seit 03:00 Uhr habe ich wach gelegen. Irgendwann reicht mir die Schlaflosigkeit und ich fange an zu packen. Schlaftrunken verabschiede ich mich von Ralf und Punkt 05:30 Uhr fahre ich aus dem Hotelhof hinaus. Das Thermometer zeigt frostige +5°C. Kurz hinter der Stadt wende ich mich noch einmal um. Der Ararat steht wolkenfrei und in voller Pracht da. Ein wehmütiger Abschied, doch die Kälte bläst meinen Kopf frei von jeglicher Sentimentalität. Gashahn auf zur längsten Etappe dieser Tour, doch das weiß ich in diesem Moment noch nicht. Fast pausenlos sitze ich den ganzen Tag im Sattel. Fünfmal tanke ich, fünfmal lehne ich die Einladung des Tankwarts zum Tee ab und fünfmal bringt er mir den Tee zur Zapfsäule hinaus, wo ich ihn mehr oder weniger eilig hinunterstürze. Mittags zwinge ich mich zu einer längeren Rast. Die Leute im Restaurant sind begeistert von meinem Motorrad, bringen Tee und stellen mir unzählige Fragen, von denen ich fast keine verstehe. Ich bestelle etwas zu essen, doch irgendwie verstehen sie nicht was ich will. Ich habe keine Lust auf lange Hände-Füße Sprache, wahrscheinlich ist zuviel Adrenalin in meinen Adern, ich will weiter, immer nur weiter. Bei Amasya muss ich den Regenkombi anziehen und ihn auch für etwa 150 Kilometer anbehalten. Die Nässe passt zu den Reisfeldern links und rechts der Straße, oder sind das einfach nur überschwemmte äcker? Bei dem Ort Gerede wird es langsam dunkel, doch unweit von hier beginnt die Autobahn Richtung Istanbul. Ich nehme mir vor, noch bis Sapanca zu fahren, dort hatten wir auf dem Herweg schon einmal übernachtet. Laut Karte sollten es nicht mehr als 150 Kilometer sein, die auf der Autobahn recht gut zu meistern sein müssten. Um 21:00 Uhr stehe ich todmüde und klamm gefroren vor dem Hotel. Der IMO zeigt eine Tagesetappe von 1.419 Kilometern an. Ich kann es selbst kaum glauben. Nachdem ich meine Sachen ins Zimmer geschleppt habe, schicke ich Ralf eine SMS mit der Nachricht, dass ich gut angekommen bin. Sicher glaubt er nicht sofort, dass ich heute so eine Etappe geschafft habe. Den ganzen Tag über habe ich nur Tee und einen Müsliriegel zu mir genommen. Eigentlich müsste ich hungrig sein. Doch die Müdigkeit ist stärker. Ich dusche heiß und falle erschlagen ins Bett.

Am Morgen fühle ich mich besser als gedacht und habe schon wieder Hummeln im Hintern. Noch vor dem Frühstück ist alles abfahrtsbereit gepackt. Rasch noch einen Kaffee getrunken und etwas Honigbrot runtergeschluckt, bevor es wieder auf die Autobahn geht. Um Istanbul herum ist wieder der obligatorische Stau. Danach nimmt der Verkehr wieder ab. Bei Silivri endet die mautpflichtige Strecke und es geht auf der Landstraße weiter. Ohne Zwischenfälle erreiche ich die Grenze. Hier muss ich schweren Herzens meinen Strafzettel bezahlen, keine Ausrede zählt. Nach insgesamt einer knappen Stunde rolle ich wieder auf EU-Boden. Im Jahr 2.000 bin ich das letzte Mal zwischen Ipsala und Thessaloniki unterwegs gewesen. In der Zwischenzeit hat sich verkehrstechnisch einiges verändert. Wahrscheinlich wegen der bevorstehenden Olympiade verläuft hier nun eine Autobahn bis Thessaloniki. Teilweise ist die Strecke noch nicht fertig und man wird auf eine Landstraße umgeleitet, doch man kommt trotzdem sehr rasch vorwärts. Hinter Thessaloniki führt die Autobahn, ebenfalls mehrfach wegen Baustellen unterbrochen, parallel zur Küste nach Süden. Bei Platamónas fahre ich Richtung Strand und suche mir eine übernachtungsmöglichkeit. Nach einigem Suchen finde ich eine Art Schrebergarten mit länglichem Häuschen, in dem mehrere kleine Zimmer vermietet werden. Die Leute sind in Ordnung, der Preis auch, also bleibe ich. Von der Zeit her könnte ich zwar noch ein ganzes Stück weiter fahren, aber knapp 900 Kilometer sind genug für heute, ich muss langsam wieder Ruhe finden.

über Larissa und Trikala fahre ich zu den Meteóra Klöstern hinauf. Ich war zwar schon mehrmals bei den Klöstern, doch sie sind immer einen Besuch wert, zumal sie nun eh an der Strecke liegen. Da ich wieder früh gestartet bin, erreiche ich auch zeitig die Felsgebilde mit den hoch oben schier unerreichbar angebrachten Gebäuden der Mönche. Nach einer Tour über die kurvenreichen Verbindungssträßchen zwischen den verschiedenen Klöstern, fahre ich wieder ins Tal hinab. Als ich in Meteóra gerade beim Frühstück sitze, hält ein Motorradfahrer auf einer 1150 GS mit Fernreiseausstattung an. Er heiße Jorge, komme aus Portugal und sei auf dem Weg nach Igoumenitsa. Ich stelle mich ebenfalls vor und sage ihm, dass ich auch dort hin möchte. „OK“, antwortet er im Imperativ, „we will drive together!“ Nun wird mein Fahrtempo beschaulicher. Erstens haben wir sowieso viel Zeit bis zur Abfahrt der Fähre heute Abend und zweitens habe ich jemand zum quatschen. Anhalten, etwas trinken und Gedanken austauschen machen nun wieder Sinn. Gemeinsam kurven wir zum 1.700 Meter hohen Katara Pass hinauf. Da die Straßen hier leider nicht den von der Heimat gewohnten Grip haben, vermeide ich größere Schräglagen, obwohl es mich schon jucken würde, mal wieder richtig in der Kurve zu liegen. Doch die Vernunft siegt, Jorge fährt mit seinen 62 Jahren eh nicht ganz so flott und wir haben ja noch so viel Zeit. Hinter Ioáninna geht es fast nur noch bergab. Kurve reiht sich an Kurve und plötzlich sehen wir das Meer tief unter uns. Sogar riechen kann man es hier oben. Am Ortseingang von Igoumenitsa füllen wir die Tanks ein letztes Mal mit billigem griechischem Sprit. Dann buchen wir unsere Tickets für die überfahrt nach Italien. Bevor wir auf die Fähre fahren, essen wir gemütlich, dösen im Schatten und erzählen von unseren Reiseeindrücken.

Mit dem Sonnenuntergang legt auch das Schiff ab. Ich stehe an der Reling und blicke auf die kleiner werdende Stadt. Doch nicht nur dorthin, in Gedanken schaue ich auch tief nach Osten, denke an Ralf, was er jetzt wohl gerade macht. Die gemeinsamen Kilometer laufen in meinem Kopf wie ein Film ab. Schöne erlebnisreiche Kilometer voller interessanter Bilder. Vergessen sind die wenigen unschönen Dinge und die Strapazen. Zurück bleiben die freundlichen Menschen und nicht zuletzt die Frage, wann geht es wieder in die Türkei...

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